Trauriges Mädchen an einer Schaukel
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Selektiver Mutismus: Ursachen, Symptome und Therapie

Von: Brit Weirich (Medizinautorin, M.A. Mehrsprachige Kommunikation)
Letzte Aktualisierung: 16.09.2024

Viele Kinder reagieren vor fremden Leuten oder in neuen Situationen zunächst schüchtern und sprechen kaum. Selektiver Mutismus geht über Schüchternheit weit hinaus. Auch nach längerer Eingewöhnung – etwa im Kindergarten – bleiben sie stumm, obwohl sie zu Hause munter kommunizieren. Wie die Störung diagnostiziert wird und welche Behandlung helfen kann, lesen Sie hier. 

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

FAQ: Häufige Fragen und Antworten zu selektivem Mutismus

Sichere Auslöser sind noch nicht bekannt, Forschende vermuten ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung, Persönlichkeitsmerkmalen und ungünstigen Kommunikationsmustern im Elternhaus. Dass traumatische Erfahrungen ursächlich sind, ist ein verbreiteter und inzwischen widerlegter Mythos.

Meist zeigen sich die ersten Symptome schon früh, etwa zwischen zwei und fünf Jahren. Oft fällt das schweigsame Verhalten des Kindes mit dem Eintritt in den Kindergarten auf. 

Ja, selektiver Mutismus wird im Diagnosesystem DSM-5 den sogenannten Angsterkrankungen zugeordnet und zählt somit zu den psychischen Störungen.

Nein, ein Zusammenhang konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Diese verbreitete Fehlannahme rührt vermutlich daher, dass sowohl hochbegabte Kinder als auch Kinder mit mutistischen Störungen häufig Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion haben und zu Hochsensibilität neigen. 

Was ist selektiver Mutismus?

Kinder mit selektivem Mutismus sprechen unter bestimmten Bedingungen nicht, obwohl ihr Sprachvermögen normal entwickelt ist und ihre Sprachorgane intakt sind. Sie sind also durchaus in der Lage, sich altersgemäß zu artikulieren und Gesprochenes zu verstehen.

Typischerweise sprechen sie problemlos

  • mit vertrauten und bekannten Bezugspersonen wie Eltern und Geschwistern sowie
  • in gewohnten Umgebungen.

Bei Kontakt mit anderen Menschen bleiben sie hingegen oft stumm.

Die Störung ist auch unter der Bezeichnung elektiver Mutismus bekannt. Mit selektiv/elektiv ist so viel wie "auswählend" gemeint. Beide Begriffe machen deutlich, dass das Kind nur in bestimmten Situationen nicht spricht. Das Wort mutus kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie "stumm".

Wesentlich seltener ist der sogenannte totale Mutismus – in diesem Fall spricht das Kind gar nicht, auch nicht mit nahestehenden Personen.

Häufigkeit

Die Angaben darüber schwanken. Einige Forschende gehen davon aus, dass weniger als eines von 1.000 Kindern betroffen ist, andere Quellen berichten von bis zu sieben von 1.000 Kindern. Mädchen betrifft die Störung häufiger als Jungen.

Wie entsteht selektiver Mutismus?

Vollständig erforscht sind die Ursachen noch nicht. Fachleute gehen aber davon aus, dass die mutistische Störung durch mehrere Faktoren begünstigt wird. Hierzu zählen zum Beispiel:

  • Verzögerungen in der Entwicklung: Vor allem die Sprachentwicklung ist bei betroffenen Kindern und Jugendlichen mitunter nicht auf dem Niveau ihrer Altersgenossen – sie reicht aber in der Regel aus, um sich verbal zu verständigen.

  • Persönlichkeitsmerkmale: Die meisten Kinder weisen bereits vor dem Auftreten erster Symptome bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf. Sie sind schüchtern und zurückhaltend, ziehen sich lieber zurück und gelten als ängstlich und sensibel. Häufig haben sie eine enge Bindung zur Mutter und wachsen sehr behütet auf.

  • Veranlagung und/oder familiäre Lernumgebung: Elektiver Mutismus tritt gehäuft in Familien auf, in denen psychiatrische Erkrankungen vorkommen. Oft ist auch ein Elternteil auffällig schüchtern.

  • kultureller Hintergrund: Kinder mit Migrationshintergrund sind häufiger betroffen, möglicherweise, weil sie mit der Sprache nicht so vertraut sind und befürchten, Fehler zu machen.

Ausgelöst wird die Erkrankung schließlich durch eine äußere Veränderung – zum Beispiel durch den Eintritt in den Kindergarten (Trennungsangst). Das Kind zieht sich aus einer sozialen Situation zurück, indem es sich nicht mehr äußert.

Woran erkennt man selektiven Mutismus?

Die ersten Anzeichen zeigen sich in der Regel im Vorschulalter, seltener tritt die Störung erst später in Erscheinung.

Charakteristisch ist, dass das Kind nur mit bestimmten Personen spricht. Dabei handelt es sich um enge Bezugspersonen wie Familienmitglieder. In anderen Situationen und bei weniger vertrauten oder fremden Personen bleiben betroffene Kinder hingegen stumm. 

Die Situationen, in denen das Kind schweigt beziehungsweise spricht, sind in der Regel immer die gleichen. Meist nimmt dieses Verhalten schleichend zu.

Folgende weitere Leitsymptome lassen sich oftmals beobachten: 

  • In Situationen, in denen das Kind nicht spricht, unterdrückt es unter Umständen auch sämtliche andere Körpergeräusche und ist gehemmt, zu lachen, zu weinen oder zu husten. 

  • In der Schule nimmt das Kind nicht aktiv am Unterricht teil und meldet sich nicht, kompensiert seine schlechte mündliche Leistung aber mitunter durch gute schriftliche Noten. 

  • Das Kind wirkt in sozialen Situationen häufig ängstlich und unbeholfen und hat Schwierigkeiten, Kontakt zu anderen Kindern sowie Freundschaften aufzubauen.

  • Viele der Kinder scheinen ihre Umwelt sehr sorgfältig zu beobachten und wahrzunehmen und ein gutes Gespür für Emotionen zu haben (Hochsensibilität).

Werden Kinder mit elektivem Mutismus von einer ihnen wenig vertrauten Person angesprochen, sind folgende Reaktionen typisch:

  • plötzliches Verstummen
  • auf den Boden schauen und Blickkontakt meiden
  • "eingefrorene" Mimik und Gestik
  • hochgezogene Schultern und eine steife Körperhaltung sowie verkrampfte Hände

Im Kreise vertrauter Menschen können betroffene Kinder durch aggressives Verhalten auffallen. In anderen Fällen reden sie teilweise extrem viel, weil sie Nachholbedarf haben, etwa nach dem Kindergarten- oder Schulbesuch.

Weitere mögliche Auffälligkeiten

Elektiver Mutismus kann mit weiteren Auffälligkeiten einhergehen, mögliche Symptome sind zum Beispiel:

Das Störungsbild kann bei Kindern für einen hohen Leidensdruck sorgen. So stößt ihr Schweigen mitunter auf Unverständnis und wird als bewusste Verweigerung missinterpretiert. 

Selektiver Mutismus: Abgrenzung zum Autismus

Mitunter wird elektiver Mutismus fälschlicherweise für Autismus gehalten. Die sogenannte Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung, während Mutismus zu den Angsterkrankungen zählt. 

Zudem bleiben die Merkmale einer ASS ein Leben lang bestehen, wohingegen Mutismus mit entsprechender Behandlung meist spätestens im Jugendalter verschwindet. Anders als Kinder mit elektivem Mutismus verhalten sich Menschen mit Autismus außerdem konstant introvertiert – unabhängig von Situation und Umfeld. Auch fallen sie durch weitere Anzeichen wie repetitive Verhaltensmuster und eingeschränkte Interessen auf. Nicht zuletzt fällt es Menschen mit ASS schwer, selbst zu engen Bezugspersonen wie den eigenen Eltern einen emotionalen Kontakt aufzubauen.

Wie wird selektiver Mutismus diagnostiziert?

Erste Anlaufstelle ist die kinderärztliche Praxis. Von dort aus kann eine Überweisung an eine*n Kinderpsycholog*in erfolgen. Die Verdachtsdiagnose ergibt sich in der Regel aus den Erzählungen der Familienangehörigen sowie aus der Verhaltensbeobachtung der*des Ärztin*Arztes. 

Dann folgt ein ausführliches Gespräch (Anamnese). Hier wird beispielsweise erfragt:

  • in welchen Situationen das Kind nicht spricht
  • wie lange dieses Verhalten schon besteht
  • wann die Symptome eingesetzt haben
  • ob die Eltern einen möglichen Auslöser für das Schweigen ausmachen können

Zur weiteren Diagnosestellung wurden verschiedene Fragebögen und Testverfahren entwickelt.

Nicht jedes Kind, das nicht oder nur wenig spricht, leidet an Mutismus. Daher ist es zusätzlich notwendig, eine gründliche körperliche Untersuchung inklusive Hörtest durchzuführen. So lassen sich andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausschließen.

Wie wird selektiver Mutismus behandelt?

Wird elektiver Mutismus frühzeitig erkannt und behandelt, ist die Prognose gut. Ohne Therapie können sich die Verhaltensweisen hingegen verfestigen – mit der Folge, dass die gestörten Kommunikationsmuster bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. 

Die Therapie besteht in der Regel aus verschiedenen Behandlungselementen, die individuell auf das Kind zugeschnitten sind.

Hierzu zählen zum Beispiel:

  • Psychotherapie zur Erweiterung der kommunikativen Fähigkeiten, etwa durch eine Verhaltenstherapie
  • Gruppentherapie zum Abbau sozialer Ängste
  • Musiktherapie, Bewegungstherapie und/oder Kunsttherapie
  • ggf. zusätzlich medikamentöse Therapie mit Antidepressiva, wobei diese nicht die einzige Maßnahme darstellen sollte

Im Rahmen einer Verhaltenstherapie lernt das Kind in einer beschützten Atmosphäre, Schritt für Schritt mit fremden Menschen zu sprechen – so zunächst etwa mit dem*der Therapeut*in. Durch nonverbale Gestik, Mimik und gemeinsames Spielen wird behutsam und in angstfreier Umgebung Vertrauen zu dem Kind aufgebaut. Das macht es ihm leichter, sich mit der Zeit auch verbal zu äußern. Hierbei kommen etwa folgende Methoden zum Einsatz:

  • Rollenspiele mit geringer kommunikativer Verantwortung (z. B. Tiergeräusche oder Geräusche mit Gegenständen wie Musikinstrumenten machen)
  • mit dem Kind flüstern
  • Audio- und Videoaufnahmen wie Hörspiele oder Filme mit einbeziehen

Elterntraining und Familientherapie

Auch die Erziehungsberechtigten sollten miteinbezogen werden. So lassen sich im Rahmen einer Familientherapie gegebenenfalls Faktoren identifizieren, die die Störung aufrechterhalten. Zudem werden den Eltern verschiedene Möglichkeiten zur Förderung des Kindes vermittelt, die auch zu Hause stattfinden können.

Auch sollte das nähere Umfeld – zum Beispiel Ansprechpartner*innen im Kindergarten oder in der Schule – über die Diagnose informiert werden. Dadurch lässt sich vermeiden, dass betroffene Kinder durch eine schlechte mündliche Beurteilung zusätzlich benachteiligt werden. So kann etwa ein Antrag auf einen Nachteilsausgleich gestellt werden. 

Selektiver Mutismus: Verlauf & Vorbeugen

Elektiver Mutismus kann sehr unterschiedlich verlaufen:

  • In vielen Fällen bildet er sich im Jugendalter langsam zurück. Die Kinder zeigen im späteren Leben ein normales Sprechverhalten und sind im sozialen Bereich unauffällig.

  • Andere Kinder wiederum sprechen später zwar wieder, sie haben jedoch weiterhin Schwierigkeiten, ungehemmt zu kommunizieren. Sie haben etwa Angst vor sozialen Kontakten und ziehen sich zurück.

  • Oft dauert die mutistische Störung nur wenige Monate an. Sie kann aber auch chronisch werden und über mehrere Jahre hinweg bestehen bleiben.

Generell gilt: Je früher die Therapie einsetzt, desto besser ist auch die Prognose. Unbehandelt kann sich die Erkrankung möglicherweise negativ auf das spätere Leben auswirken. So kann es sein, dass die Betroffenen als Erwachsener weiterhin sehr schüchtern sind oder eine soziale Phobie entwickeln.

Lässt sich selektivem Mutismus vorbeugen?

Sicher vorbeugen können Eltern nicht. Allerdings gilt es, innerfamiliäre Interaktionsmuster genau zu betrachten und zu hinterfragen: So können Überfürsorglichkeit sowie die Akzeptanz des Schweigens dieses noch verstärken. Das Kind zum Sprechen zu drängen, ist jedoch ebenfalls nicht förderlich. 

Für Eltern ist dies eine große Herausforderung, weshalb sie frühzeitig ärztliche Hilfe hinzuziehen sollten. Unterstützung bieten auch die Sprachambulanz des Gesundheitsamts oder eine Frühförderstelle.