Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Anzeichen, Ursachen und Therapie
Menschen, die vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom betroffen sind, erfinden oder manipulieren Krankheitssymptome – allerdings nicht bei sich selbst, sondern bei ihnen nahestehenden Personen. So versuchen etwa Mütter, durch ihre vermeintlich kranken Kinder Anerkennung zu erhalten, indem sie sich besonders fürsorglich geben. Lesen Sie, was hinter der psychischen Störung steckt und wie sie sich diagnostizieren lässt.
FAQ: Häufig gestellte Fragen zum Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, auch Münchhausen-by-proxy-Syndrom, handelt es sich um eine Sonderform des Münchhausen-Syndroms: Betroffene erfinden oder erzeugen Krankheitssymptome bei einer nahestehenden Person – in der Regel eine Mutter bei ihrem Kind – um eine medizinische Behandlung zu erwirken und so Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten. Die psychische Störung ist eine Form der Kindesmisshandlung und kann für Opfer lebensbedrohlich sein.
Die psychische Störung ist für Außenstehende schwer zu erkennen: Menschen mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom treten als äußerst fürsorglich auf. Zudem wechseln Sie die*den Ärztin*Arzt oder die Klinik, sobald jemand Verdacht schöpft und es zu einer Konfrontation kommt. Typische Warnzeichen sind, wenn keine Ursache für die Beschwerden gefunden werden, sämtliche Behandlungen erfolglos bleiben und der*die Täter*in auf medizinisch nicht notwendige (operative) Eingriffe drängt.
Das Erfinden und Vortäuschen von Krankheitssymptomen findet bewusst statt. Betroffene erhoffen sich dadurch Aufmerksamkeit, Anerkennung und Mitgefühl. Allerdings geht das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom häufig mit weiteren psychischen Störungen einher – etwa Traumata durch selbst erlebten Missbrauch –, denen sich die Erkrankten nicht zwangsläufig bewusst sind.
Fachleute gehen davon aus, dass das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom auf eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung zurückzuführen ist – oft verursacht durch Missbrauch und/oder Misshandlung in der Kindheit. Auch tritt die Erkrankung häufig bei Menschen auf, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrem eigenen Körper haben oder zu Depressionen neigen.
Expert*innen vermuten, dass hinter einigen Fällen der Tierquälerei das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom steckt. Typische Warnzeichen sind häufige Tierarztbesuche aufgrund von wechselnden Verletzungen und Erkrankungen, die sich medizinisch nicht erklären lassen.
Was ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (auch: Münchhausen-by-proxy-Syndrom) ist eine sogenannte artifizielle (künstliche) Störung. Die Sonderform des Münchhausen-Syndroms kann besonders problematisch sein – denn andere Menschen werden dabei in Mitleidenschaft gezogen: Es handelt sich nicht nur um eine schwerwiegende psychische Erkrankung, sondern auch um eine Form der Kindesmisshandlung.
Im Gegensatz zum Münchhausen-Syndrom fügen Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom sich selbst keinen Schaden zu, sondern einer*m Stellvertreter*in – in der Regel einem Kind. Nahe Angehörige, in 90 Prozent der Fälle Mütter, geben bei Arztbesuchen vor, ihr Kind habe eine Krankheit, und drängen auf eine medizinische Behandlung. In schweren Fällen misshandeln Betroffene des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms ihr Kind beziehungsweise manipulieren seinen Gesundheitszustand ganz gezielt. Auf diese Weise erregen Münchhausen-Stellvertreter-Betroffene Aufmerksamkeit und Bewunderung für ihre vermeintliche Fürsorge. Darüber hinaus wird ihnen Mitgefühl aufgrund der nicht endenden Krankheitsgeschichte des Kindes entgegengebracht.
Wie oft kommt das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom vor?
Bis zu 200 Fälle werden in Deutschland jährlich bekannt. Expert*innen gehen aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. Rund 80 Prozent der Opfer sind Kinder bis zum ersten Lebensjahr. In seltenen Fällen nutzt der*die Betroffene nicht ein Kind, sondern einen anderen Erwachsenen für seine Zwecke. Mediziner*innen sprechen dann von einem Münchhausen-by-adult-proxy-Syndrom.
Vermuten Mediziner*innen, dass das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom vorliegen könnte, ist schnelles Handeln gefragt: Die Opfer – meist die Kinder – müssen schleunigst in Sicherheit gebracht werden, zudem werden neben einer intensiven Therapie strafrechtliche Schritte eingeleitet.
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Typische Anzeichen
Fachleute vermuten, dass es sich beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom um eine der häufigsten unerkannten Erkrankungen überhaupt handelt. Um eine medizinische Behandlung für den*die Stellvertreter*in zu erwirken, machen Betroffene nicht nur bewusst falsche Angaben und berichten etwa von hohem Fieber, Herz-Kreislauf-Problemen, allergischen Reaktionen oder epileptischen Anfällen, sondern greifen auch zu drastischeren Mitteln.
Einige Beispiele:
- Sie fälschen Messdaten (z. B. Fieberkurven).
- Sie mischen dem Urin des Kindes selbst abgenommenes Blut oder Zucker bei, damit die*der Ärztin*Arzt eine Krankheit vermutet.
- Sie verabreichen dem Kind bewusst Arzneimittel, die zu bestimmten Symptomen führen, etwa Abführmittel, damit Durchfall auftritt.
- Sie führen Elektrolytstörungen herbei, etwa eine Hyperkaliämie, indem sie dem Kind große Mengen kaliumhaltiger Lösungen injizieren.
- Sie spritzen dem Kind infektiöse Flüssigkeiten, damit es Fieber oder auch eine Blutvergiftung bekommt.
- Sie brechen dem Kind absichtlich die Knochen.
Häufig begeben sich Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom mit ihrem Kind in die Notaufnahme. Manchmal drängen sie auch darauf, das Kind einer eigentlich unnötigen Operation zu unterziehen. Durch all dies erscheinen sie außerordentlich fürsorglich, was für die behandelnden Ärzt*innen besonders trügerisch ist. Diese schöpfen oft lange Zeit keinen Verdacht, können aber auch keine Ursache für die Beschwerden des Kindes finden.
In diesen Fällen sollten Mediziner*innen misstrauisch werden:
- Das Krankheitsbild des Kindes wirft Fragen auf, auch nach zahlreichen Untersuchungen lässt sich kein Auslöser für die Beschwerden finden.
- Berichte über Krankheitssymptome und/oder Unfälle, etwa im Fall von Knochenbrüchen, Wunden oder Blutungen, erscheinen nicht schlüssig.
- Es kommt zu langwierigen Wundheilungsstörungen.
- Sämtliche Therapiemaßnahmen erwirken keine Besserung der Symptome.
- Die Mutter drängt die Mediziner*innen zu operativen Eingriffen oder anderen für das Kind unangenehme Behandlungen, die nicht zwingend notwendig sind.
- Täter*innen sind oft alleinerziehend, versorgen das kranke Kind eigenständig und lassen es nahezu nie allein.
- Münchhausen-by-proxy-Betroffene scheinen zwar fürsorglich, aber weder übermäßig besorgt noch ungeduldig.
- Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom haben häufig eine medizinische Ausbildung, arbeiten im Gesundheitsbereich und verfügen über medizinische Kenntnisse, die über das Wissen von Laien hinausgeht.
- Der*die Erkrankte reagiert übermäßig ungehalten bei Konfrontation mit Unstimmigkeiten durch die*den Ärztin*Arzt.
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Mögliche Ursachen
Fachleuten zufolge leiden Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom an einer schweren Persönlichkeitsstörung. Folgende weitere Faktoren können die Erkrankung begünstigen:
- Betroffene haben als Kind selbst Missbrauch oder Gewalt erlebt. Traumatische Erfahrungen wie diese führen mitunter dazu, dass sie sich nicht in andere hinein versetzen und keine Empathie empfinden können – auch nicht für das eigene Kind.
- Betroffene haben in ihrer Kindheit nicht genügend Anerkennung erhalten, weshalb sie kein Selbstwertgefühl entwickeln konnten und sich die fehlende Bestätigung nun auf anderem Wege beschaffen. Oft waren sie in der Kindheit und/oder Jugend häufig krank und hatten daher viel Kontakt zu Mediziner*innen. Durch diese haben sie womöglich die ersehnte Aufmerksamkeit erhalten. Die Manipulation von Krankheitssymptomen dient hier als Mittel, um eine Beziehung zu der*dem Ärztin*Arzt aufzubauen.
- Betroffene haben typischerweise ein gestörtes Verhältnis des körperlichen Selbstbildes, sie leiden etwa an einer Körperschemastörung (Dysmorphophobie) oder einer Essstörung wie Magersucht und Bulimie, und lehnen ihren eigenen Körper ab.
- Neben einer Identitätsstörung weisen viele Betroffene eine depressive Persönlichkeitsstruktur auf.
- Mitunter erhoffen sich Erkrankte, durch die erschwindelten Beschwerden des Kindes vorhandene Eheprobleme mit dem*der Partner*in zu lösen.
Wie wird das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom diagnostiziert?
Für ihre vermeintlich aufopferungsvolle Fürsorge werden Menschen mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom von Außenstehenden bewundert und gelten als selbstlos. Dass statt Fürsorge, Vernachlässigung und Misshandlung stattfinden, ist für Mediziner*innen schwierig zu erkennen. Entsprechend kompliziert gestaltet sich eine Diagnosestellung – auch, weil Betroffene die Anschuldigungen in aller Regel von sich weisen.
Häufig sind es nahe Angehörige, die Verdacht schöpfen – etwa wenn bei einem Kind auffällig oft verschiedene Erkrankungen und/oder Verletzungen auftreten. Wird die vermeintlich aufopfernde Mutter bei kritischen Nachfragen unsicher oder blockt ab, kann das ein Warnzeichen sein, dem man nachgehen sollte.
Gestörte Mutter-Kind-Beziehung
Selten spricht das Kind von sich aus über den Missbrauch. Zum einen sind die betroffenen Kinder in der Regel noch sehr klein, sodass sie das Täuschungsverhalten des*der Täter*in nicht als solches erkennen. Zum anderen ist die Beziehung zwischen Täter*in und Opfer häufig von symbiotischen Beziehungsmerkmalen gekennzeichnet: Der*die Täter*in lässt das Kind selten allein.
Einsatz von Überwachungskameras
Kommt der Verdacht im Krankenhaus auf, beispielsweise durch das Pflegepersonal, können auch Überwachungskameras zum Einsatz kommen. Dies ist erlaubt, wenn das Kindeswohl in Gefahr ist. So verändert die erkrankte Mutter ihr Verhalten typischerweise, sobald sie mit ihrem Kind allein ist, und von der fürsorglichen Interaktion ist nichts mehr zu sehen.
Therapie: Wie lässt sich das Münchhausen-Syndrom behandeln?
Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom sind psychisch schwer erkrankt und benötigen eine intensive therapeutische Behandlung – in der Regel eine Psychotherapie. Der*die Psycholog*in versucht dadurch zunächst die Ursachen der Störung zu ermitteln und diese gemeinsam mit dem*der Erkrankten aufzuarbeiten. Im besten Fall erfolgt die Therapie stationär und über einen langen Zeitraum, da die psychische Erkrankung oft mit weiteren Störungen einhergeht.
Ergänzend zur Therapie setzen Mediziner*innen häufig Medikamente ein, etwa Neuroleptika oder Antidepressiva.
Kindesmisshandlung: Auswirkungen auf die Opfer
Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist eine schwere Form der Kindesmisshandlung, die für das Kind gravierende körperliche und seelische Folgen haben kann: Die Gefahr ist groß, dass es selbst eine psychische Störung entwickelt. Aber auch die provozierten Krankheitszeichen beim Kind können zu körperlichen Schäden führen. Diese sind unter Umständen so stark, dass es daran stirbt.
Der Schutz eines betroffenen Kindes hat oberste Priorität: Sobald Hinweise auf Misshandlungen vorliegen, sollten Außenstehende wie zum Beispiel Ärzt*innen umgehend das Jugendamt informieren. So kann für eine externe Betreuung des Kindes gesorgt werden. Auch sollten betroffene Kinder psychotherapeutische Hilfe erhalten. Ferner ist zu prüfen, ob womöglich noch weitere Kinder aus dem Umfeld zum Opfer wurden – etwa Geschwisterkinder.