Fragiles-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom)
Das Fragile-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) ist eine der häufigsten Ursachen für eine genetisch bedingte geistige Entwicklungsstörung und betrifft vor allem Männer. Bei Frauen fällt die Erkrankung wesentlich milder aus oder ist gar nicht ausgeprägt.
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Überblick
Ursache für das Fragile-X-Syndrom ist eine Veränderung in einem Gen (Mutation), das auf dem X-Chromosom liegt: dem FMR1-Gen. Diese Mutation führt zu einer unterschiedlich starken Minderbegabung, die von Lernstörungen bis hin zu einer schweren geistigen Behinderung reichen kann.
Im Kindesalter stehen eine geistige Entwicklungsstörung, Sprech- und Sprachstörungen und häufig ein hyperaktives oder Autismus-ähnliches Verhalten im Vordergrund. Im Jugend- und Erwachsenenalter können sich bestimmte körperliche Merkmale wie ein langes Gesicht, ein großes Kinn und große abstehende Ohren entwickeln. Bei Männern vergrößern sich außerdem oft die Hoden. Diese körperlichen Veränderungen sind jedoch oft nicht sehr stark ausgeprägt. Die Intelligenzminderung nimmt mit dem Alter zu.
Die Diagnose des Fragilen-X-Syndroms erfolgt durch eine DNA-Analyse, wenn bestimmte Merkmale der Erkrankung vorliegen. Bislang gibt es keine Therapie, die die Ursache des Fragilen-X-Syndroms behandeln kann. Therapeutische Maßnahmen aus dem Bereich der Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie können jedoch dabei helfen, den Betroffenen individuell nach seinen Bedürfnissen zu fördern und möglichst gut zu integrieren.
Frauen, die gesichert als Überträger des Fragilen-X-Syndroms gelten, können bei Kinderwunsch eine genetische Beratung in Anspruch nehmen.
- Fra(X)-Syndrom
- Frax-Syndrom
- Marker-X-Syndrom
Definition
Das Fragile-X-Syndrom ist eine genetisch verursachte geistige Entwicklungsstörung. Sie tritt vor allem bei Jungen beziehungsweise Männern auf. Die Erkrankung ist auch unter anderen Bezeichnungen bekannt, wie:
- Martin Bell-Syndrom
- Marker-X-Syndrom
- Fra(X)-Syndrom
- Frax-Syndrom
Das Fragile-X-Syndrom wurde erstmals 1943 durch den britischen Arzt James Purdon Martin und die britische Humangenetikerin Julia Bell beschrieben und war lange Zeit unter dem Namen Martin-Bell-Syndrom bekannt.
Davor war die einzige Möglichkeit für eine Diagnose eine recht unsichere und sehr aufwändige Chromosomenuntersuchung. Dabei lässt sich unter bestimmten Bedingungen eine Auffälligkeit am X-Chromosom (dem weiblichen Geschlechtschromosom) erzeugen: eine Lücke beziehungsweise einen Bruch an einer bestimmten, zerbrechlichen (fragilen) Stelle des langen Arms des X-Chromosoms. Die Bezeichnung "Fragiles-X-Syndrom" leitet sich von dieser Besonderheit des X-Chromosoms bei den Betroffenen ab.
Formen des Fragilen-X-Syndroms
Beim Fragilen-X-Syndrom gibt es zwei Formen von genetischen Veränderungen (Mutationen):
- die Prämutation und
- die Vollmutation.
Prämutationen haben keine Auswirkungen auf die intellektuelle Entwicklung, sind aber eine Vorstufe der Vollmutation, die mit entsprechenden Krankheitsmerkmalen einhergeht. Im Laufe mehrerer Generationen kann sich aus einer Prämutation eine Vollmutation entwickeln.
Männer mit einer Vollmutation sind schwer geistig behindert. Frauen mit einer Prämutation zeigen keine Symptome, sind mit einer Vollmutation jedoch in unterschiedlichen Ausmaßen geistig behindert.
Häufigkeit
Das Fragile-X-Syndrom tritt bei etwa einem von 3.000 Kindern auf, wobei Jungen häufiger als Mädchen betroffen sind. Je nach Quelle können die Häufigkeitsangaben hierzu jedoch schwanken.
Ursachen
Ursache für das Fragile-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) ist ein verändertes (mutiertes) Gen auf dem X-Chromosom: das FMR1-Gen. Je nach Art der Mutation führt sie dazu, dass ein spezielles Eiweiß, das sogenannte FMR1-Protein, nicht mehr oder zu wenig hergestellt wird. Diese Genveränderung können Eltern an ihre Kinder weitergeben.
Ein Gen besteht immer aus einer spezifischen Abfolge von vier verschiedenen Nukleotiden (Adenin, Thymin, Guanin, Cytosin). Bei einem gesunden FMR1-Gen gibt es einen Sequenzabschnitt, der sich mehrfach wiederholt. Die Abfolge CCG kommen dabei etwa 6- bis 45-mal vor. Das hat jedoch keine Auswirkungen, das FMR1-Protein wird problemlos hergestellt. Bei manchen Menschen kommt diese Sequenz jedoch deutlich häufiger vor – ab etwa 200 Wiederholungen wird das Gen abgeschaltet und kein FMR1-Protein mehr hergestellt. Als Folge entwickelt sich beim Betroffenen das Fragile-X-Syndrom.
Mögliche Häufigkeiten der CCG-Wiederholungen und ihre Auswirkungen
Anzahl CCG-Wiederholungen | Auswirkung |
6 bis 45: Normal | 6 bis 45 CCG-Wiederholungen gelten als normal beim FMR1-Gen. Es liegt kein Fragiles-X-Syndrom vor. Nachkommen sind nicht vom Fragilen-X-Syndrom betroffen. |
45 bis 55: Grauzone / Intermediärbereich | Es liegt kein Fragiles-X-Syndrom vor. In der Regel bleibt das Gen bei der Übertragung auf die Nachkommen stabil. |
55 bis 200: Prämutation | Es liegt kein Fragiles-Syndrom vor. Bei manchen Betroffenen treten jedoch Störungen auf, die mit dem Fragilen-X-Syndrom zusammenhängen können. Die Genveränderung kann an die Nachkommen weitergegeben werden und führt bei ihnen entweder zu einer Prämutation oder einer Vollmutation des FMR1-Gens. Frauen: Bei betroffenen Frauen besteht mit jeder Schwangerschaft eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass die Prämutation an das Kind weitergegeben wird. Je mehr CCG-Wiederholungen das FMR1-Gen aufweist, desto höher ist das Risiko, dass eine Vollmutation an die Kinder weitergegeben wird. Männer: Betroffene Männer geben die Prämutation an ihre Töchter weiter. Söhne erben die Prämutation jedoch nicht. |
über 200: Vollmutation | Bei Betroffenen liegt das Fragile-X-Syndrom vor. Bei betroffenen Frauen besteht mit jeder Schwangerschaft eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass die Vollmutation an das Kind weitergegeben wird. |
Bisherige Forschungsergebnisse zufolge spielt das FMR1-Protein eine wichtige Rolle für die Produktion weiterer Eiweiße. Der Ausfall des FMR1-Gens führt anscheinend dazu, dass sich Nervenzellen im Gehirn nicht regelrecht entwickeln können. Als Folge kommt es zu Defiziten im Bereich Lernen und Gedächtnis.
Symptome
Das Fragile-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) zeichnet sich durch unterschiedliche Symptome aus. Hauptmerkmal sind verminderte intellektuelle Fähigkeiten. Die Art der geistigen Entwicklungsstörung kann dabei sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und reicht von einem noch normalen Intelligenzquotienten (IQ) und allgemeinen Lernschwierigkeiten bis hin zu einer geistigen Behinderung.
Die Intelligenzminderung zeigt sich dabei mit zunehmendem Alter stärker, häufig kommt es zu Sprech- und Sprachstörungen. Das Lernen ist durch Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen beeinträchtigt, wobei die Lernprobleme beim Rechnen am stärksten ausgeprägt sind. Auch Schlafstörungen oder ein Autismus-ähnliches Verhalten sind teilweise zu beobachten. Unter Autismus-ähnlichen Verhaltensweisen versteht man zum Beispiel Verhaltenszüge wie diese: Der Betroffene ...
- ... entzieht sich Kontakten zu anderen Personen.
- ... wendet den Blick ab bzw. meidet direkten Augenkontakt.
- ... wedelt mit den Händen oder beißt sich in die Hände, wenn er aufgeregt ist.
Außerdem kann es beim Fragilen-X-Syndrom zu ausgeprägten Wutausbrüchen und epileptischen Anfällen kommen. Bereits im Kindesalter kann sich das Fragile-X-Syndrom körperlich durch Symptome äußern wie:
- große, abstehende Ohren
- langes, schmales Gesicht
- vorspringende Stirn
- vorspringendes, eckiges Kinn
- auffälliges Wachstum
- überdehnbare Gelenke
- vergrößerte Hoden
Diese körperlichen Symptome sind jedoch häufig nicht sehr stark ausgeprägt.
Störungen, die mit dem Fragilen-X-Syndrom zusammenhängen können
Bei Betroffenen mit einer Prämutation stellt der Körper nur eine geringe Menge an FMR1-Protein her. Dadurch entwickelt sich zwar kein Fragiles-X-Syndrom, es können jedoch unter Umständen andere Störungen auftreten, die mit der Erkrankung zusammenhängen. Zu diesen Störungen zählen:
- eine primäre Ovarialinsuffizienz (Fragile-X associated Primary Ovarian Insufficiency, FXPOI): Bei den betroffenen Frauen funktionieren die Eierstöcke nicht richtig. Als Folge kann es zu Wechseljahre-ähnlichen Beschwerden kommen, wie etwa Hitzewallungen oder einer trockenen Scheide. Eine Schwangerschaft ist jedoch nicht zwangsläufig ausgeschlossen.
- ein Zittern eine gestörte Bewegungskoordination (Fragile X-Associated Tremor/Ataxia Syndrome, FXTAS): Hiervon sind Männer häufiger betroffen als Frauen. Typische Symptome sind z.B.:
- Gleichgewichtsstörungen
- Zittern bei gezielten Bewegungen (wie Getränke eingießen, Schreiben)
- Gedächtnisprobleme
- Stimmungsschwankungen
- kognitiver Abbau (Fähigkeiten wie Rechnen, Lesen, Sprachverständnis gehen verloren)
Diagnose
Beim Fragilen-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) lässt sich eine erste Verdachtsdiagnose anhand der auftretenden Symptome stellen, also etwa bei vorhandener Intelligenzminderung und / oder autistischen Verhaltenszügen. Eine sichere Diagnose erfolgt durch eine molekulargenetische Untersuchung, bei der mittels einer Blutprobe das veränderte FMR1-Gen nachgewiesen wird. Im Zweifelsfall kommen weitere Methoden zum Einsatz, mit denen die Menge des FMR1-Proteins festgestellt werden kann.
Während der Schwangerschaft ist eine frühzeitige Diagnose im Rahmen der Pränataldiagnostik möglich, etwa mittels einer Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) oder einer Probeentnahme aus der Plazenta (Chorionzottenbiopsie).
Therapie
Für das Fragile-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) gibt es keine ursächliche Therapie. Durch eine frühe Diagnose können jedoch gezielt therapeutische Maßnahmen etwa aus dem Bereich der Krankengymnastik, Logopädie oder Ergotherapie eingesetzt werden, um auf die individuellen Probleme des Kindes einzugehen und dessen Integration zu fördern.
Tipps zum Umgang mit Betroffenen:
- Wenn Blickkontakt von Betroffenen als unangenehm empfunden wird: Stellen oder setzen Sie sich neben den Betroffenen.
- Routine ist wichtig: Teilen Sie dem Betroffenen Änderungen vom gewohnten Ablauf mit und erklären Sie die Gründe dafür.
- Betroffene haben oft Probleme mit dem aktiven Sprechen – der passive Wortschatz und das Sprachverständnis sind aber häufig besser als man deswegen vermuten würde. Sprechen Sie deshalb ganz normal, in eher kurzen Sätzen. Sprechen Sie nicht langsamer als sonst. Machen Sie kurze Pausen zwischen den Sätzen. Unterhalten Sie sich nicht im Beisein des Betroffenen als wäre er nicht da oder als würde er Sie nicht verstehen.
- Das Zusammensein mit vielen Menschen kann anstrengend und beängstigend für den Betroffenen sein, er zieht sich möglicherweise zurück. Versuchen Sie nicht, den Betroffenen am Rückzug zu hindern – wahrscheinlich möchte er nach einer kurzen Pause von selbst wieder dazukommen.
- Die Betroffenen sind häufig sehr sensibel für Gefühle anderer. Sorgen, aufgeregtes Verhalten, Streits oder Geschrei können sie beunruhigen und verängstigen.
- Sorgen Sie für ein ruhiges Umfeld.
- Gefühle können von den Betroffenen oft nicht deutlich ausgedrückt werden. Verschlechtert sich das Verhalten, kann das ein Anzeichen für Sorgen bei ihnen sein.
Verlauf
Die körperlichen Veränderungen des Fragilen-X-Syndroms (Martin-Bell-Syndrom) können sich mit dem Alter verstärken. Typisch ist dabei ein langes schmales Gesicht mit einer hervorspringenden Stirn und einem hervortretenden Kinn. Die Ohren sind groß und mitunter abstehend. Ein Großteil der Männer (etwa 80 Prozent) mit Fragilem-X-Syndrom hat außerdem vergrößerte Hoden. Eine Bindegewebsschwäche kann sich in Form von überdehnbaren Gelenken äußern. Obwohl das Wachstum im Kindesalter häufig beschleunigt ist, wird meist eine durchschnittliche Endgröße erreicht. Die Betroffenen haben in der Regel eine durchschnittliche Lebenserwartung.
Vorbeugen
Das Fragile-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom) hat genetische Ursachen. Es sind bislang keine Maßnahmen bekannt, mit denen man der Erkrankung vorbeugen könnte.
Frauen, bei denen das Fragile-X-Syndrom bekannt ist oder denen bekannt ist, dass das Fragile-X-Syndrom in der Familie vorkommt, können bei Kinderwunsch eine genetische Beratung in Anspruch nehmen. Hier erhalten sie Informationen zur Vererbung der Erkrankung und können Fragen zum Thema Familienplanung klären, wie zum Beispiel mit welcher Wahrscheinlichkeit Nachkommen von der Erkrankung betroffen sein könnten.