Essstörungen: Formen, Ursachen und Behandlung
Anorexie, Bulimie, Binge-Eating: Neben diesen bekannten Erkrankungen gibt es noch viele weitere Essstörungen. Meist treten sie kombiniert auf. Betroffene verspüren einen starken Leidensdruck. Unbehandelt können Essstörungen fatale Folgen für Psyche und Körper haben. Lesen Sie, welche Essstörungen es gibt, wie sie sich bemerkbar machen und welche Behandlungen infrage kommen.
Was ist eine Essstörung?
Eine Essstörung ist eine psychische Erkrankung, die sich durch eine Störung des Essverhaltens und dem Verhältnis zum eigenen Körper kennzeichnet. Essstörungen gehen mit einem hohen Leidensdruck einher und bedürfen unbedingt einer Therapie. Ohne professionelle Hilfe kann die Erkrankung ernsthafte Folgen für die psychische und physische Gesundheit haben. Je eher Betroffene ärztlichen Rat einholen, desto besser stehen die Chancen auf eine vollständige Genesung.
Ab wann spricht man von einer Essstörung?
Eine Diät halten, sich überessen, den eigenen Körper kritisieren: Den meisten Menschen dürfte zumindest eine dieser Verhaltensweisen bekannt vorkommen. Oft ist es jedoch schwierig zu erkennen, wo normales Essverhalten aufhört und wo gestörtes Essverhalten beginnt – das wiederum in einer Essstörung münden kann. Ein gesundes Essverhalten kennzeichnet sich dadurch, dass
- Hunger- und Sättigungssignale wahrgenommen und Mahlzeiten entsprechend gestaltet werden,
- mit Genuss und Freude gegessen wird,
- das Thema Essen keinen übermäßig großen Raum einnimmt.
Sind diese Kriterien nicht oder nur teilweise erfüllt, sprechen Fachleute von einem gestörten Essverhalten. Kommt es durch das Essverhalten zu einem hohen Leidensdruck und einer emotionalen, sozialen oder körperlichen Schädigung des*der Betroffenen, handelt es sich um eine Essstörung.
Wie viele Menschen sind betroffen?
Laut aktueller Statistik sind in Deutschland ein bis fünf Prozent der Bevölkerung von einer Essstörung betroffen. Verlässliche Zahlen sind jedoch schwierig zu ermitteln, da ein Großteil der Erkrankungen vermutlich ohne Diagnose bleibt. Nach aktuellem Stand sind Frauen dreimal häufiger von Essstörungen betroffen als Männer. Fachleute gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer erkrankter Männer deutlich höher ist.
Übrigens: Im Zuge der Corona-Pandemie verzeichneten Expert*innen einen rasanten Anstieg von Essstörungen sowie von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen.
Welche Essstörungen gibt es?
Fachleute unterscheiden drei Hauptformen von Essstörungen:
1. Magersucht (Anorexia nervosa)
Magersucht kennzeichnet sich durch ein restriktives Essverhalten: Die Nahrungsaufnahme wird drastisch reduziert, oft auch in Kombination mit exzessivem Sportverhalten (Sportsucht). Betroffene hungern, sodass in vielen Fällen eine starke Gewichtsabnahme erfolgt, die gefährliche körperliche Folgen mit sich bringt. Untergewicht ist allerdings kein bindendes Kriterium für eine Diagnosestellung: Bei der sogenannten atypischen Anorexie etwa befinden sich Erkrankte im Normalgewicht, erfüllen aber alle anderen Merkmale einer Magersucht.
2. Bulimie (Bulimia nervosa, Ess-Brech-Sucht)
Menschen mit Bulimie leiden an unkontrollierten Essanfällen, gefolgt von einer anschließenden Kompensation: So versuchen Erkrankte, die aufgenommenen Kalorien wieder loszuwerden, etwa durch selbstherbeigeführtes Erbrechen, exzessiven Sport, Fasten oder die Einnahme von Abführmitteln oder Entwässerungstabletten. Häufig sieht man Betroffenen eine Bulimie nicht an, da diese Form der Essstörung meist mit Normalgewicht einhergeht.
3. Binge-Eating-Störung (Binge Eating Disorder, Esssucht)
Die Binge-Eating-Störung ist die häufigste diagnostizierte Essstörung. Charakteristisch sind unkontrollierte Essanfälle, allerdings folgen danach keine gewichtsregulierenden Maßnahmen. Während einer solchen Essattacke nehmen Betroffene mitunter zwischen 3.000 und 10.000 Kalorien zu sich. Dabei geht es nicht um Genuss oder Freude am Essen. Vielmehr spendet das Essen kurzfristig Trost oder hilft dabei, negative Gefühle zu betäuben. Eine Binge-Eating-Störung geht häufig mit starkem Übergewicht (Adipositas) einher.
Daneben gibt es noch weitere Formen von Essstörungen, deren Einordnung jedoch nicht klar definiert ist. Die folgenden Essstörungen werden nicht als eigenständige Erkrankungen anerkannt, sondern als komorbide (begleitende) Störungen bezeichnet, die mit anderen psychischen Krankheiten einhergehen.
- Selektive Essstörung (Selective eating disorder, Avoidant/restrictive food intake disorder; ARFID): Die selektive Essstörung kennzeichnet sich durch eine sehr einseitige Ernährung. Betroffene nehmen nur bestimmte Lebensmittel zu sich und schließen komplette Lebensmittelgruppen aus ihrer Ernährung aus. In der Folge kommt es zu Nährstoffmangel, der wiederum eine Vielzahl gesundheitlicher Probleme auslösen kann. Die selektive Essstörung beginnt meist schon im Kindesalter, häufig als Reaktion auf eine traumatische Erfahrung.
- Orthorexie (Orthorexia nervosa): Betroffene entwickeln ein zwanghaft gesundes Ernährungsverhalten, das ihren gesamten Alltag bestimmt. Strenge Regeln sorgen für einen hohen Leidensdruck. Zeitgleich fühlen sich Erkrankte ihren Mitmenschen oft überlegen und versuchen, diese eifrig von ihrem gesunden Essverhalten zu überzeugen.
- Pica-Syndrom: Diese Form der Essstörung entwickelt sich meist im Kindesalter oder im Zuge einer Schwangerschaft. Die Erkrankung tritt zudem auch oft neben Autismus, Schizophrenie oder bei Intelligenzminderung auf. Betroffene ernähren sich von Dingen, die eigentlich nicht zum Verzehr geeignet sind – etwa von Erde, Papier oder Haaren. Das Pica-Syndrom kann zu Magen-Darm-Beschwerden und im schlimmsten Fall zum Darmverschluss oder einer Bleivergiftung führen.
- Night-Eating-Syndrom (NES, Nacht-Esser-Syndrom): Betroffene spüren ein starkes Verlangen einer nächtlichen Nahrungsaufnahme. Sie essen und trinken zusätzlich mindestens 25 Prozent der Menge, die üblicherweise tagsüber konsumiert wird. Betroffene haben das Gefühl, sich nicht bremsen zu können und essen in kurzer Zeit große Mengen. NES ist noch nicht gut erforscht, Fachleute vermuten aber, dass das nächtliche Essen auf Erkrankte eine beruhigende Wirkung hat und beim Einschlafen hilft. Auch kann der nächtliche Heißhunger als Reaktion auf eine starke Restriktion am Tag entstehen.
- Anorexia athletica (Sportsucht): Eine Sportsucht geht in der Regel nicht nur mit dem Zwang nach exzessiven Sporteinheiten einher, sondern auch mit einem restriktiven Essverhalten. Diese Form der Essstörung tritt vor allem im Leistungssport auf.
Meist liegt eine Mischform vor
In den meisten Fällen überschneiden sich Merkmale verschiedener Essstörungen. Häufig geht auch eine Essstörung in eine andere über. So kann sich eine Magersucht etwa zu einer Bulimie oder Binge-Eating-Störung entwickeln. Dazu kommt es, da der Körper durch die lange und strenge Restriktion mit der Zeit einen extremen Hunger (Hypororexie) entwickeln kann, der häufig mit Essanfällen einhergeht.
Ursachen einer Essstörung
Essstörungen entstehen durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, in der Regel lassen sie sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Fachleute unterscheiden diese Kategorien:
- Biologische Faktoren: Genetische Disposition und hormonelle Einflüsse können eine Essstörung begünstigen.
- Familiäre Faktoren: Ist ein Elternteil an einer Essstörung erkrankt, ist das Risiko für das Kind ebenfalls erhöht. Auch wenn die Eltern vor dem Kind den eigenen Körper kritisieren und/oder regelmäßig Diät halten und dem Kind somit ein problematisches Essverhalten vorleben, kann das ein prägender Faktor sein. Familiäre Streitigkeiten sind ein weiterer möglicher Auslöser. Im Falle einer Scheidung fühlt sich das Kind womöglich verantwortlich und kompensiert dieses Gefühl mit einer Essstörung.
- Individuelle Faktoren: Neigt eine Person zu einem geringen Selbstwertgefühl, Perfektionismus und einem hohen Leistungsanspruch, kann das eine Essstörung begünstigen. Auch das Bedürfnis nach Kontrolle, eine verminderte Konfliktfähigkeit und traumatische Erfahrungen, etwa sexueller Missbrauch, können ursächlich sein.
- Sozio-kulturelle Faktoren: Einflüsse, die sich vor allem durch die Medien und in sozialen Netzwerken verbreiten, können gerade im Kindes- und Jugendalter weitreichende Folgen haben. Das vorherrschende Schönheitsideal ist online sehr präsent. Der permanente Vergleich von Ernährung, Gewicht und Aussehen kann die Entstehung und den Verlauf von Essstörungen beeinflussen.
Symptome einer Essstörung
Je nach Art der Essstörung kann sich die Erkrankung durch unterschiedliche Symptome äußern:
- Ständiges Gedankenkreisen um das Thema Essen
- Verlust des natürlichen Hunger- und Sättigungsgefühls
- Heißhunger
- Heimliches Essen und Horten von Nahrungsmitteln
- Scham und Schuldgefühle nach unkontrollierten Essanfällen, teilweise aber auch nach normalen Mahlzeiten
- Abwertung des eigenen Körpers, Empfindungen wie Selbsthass und Ekel
- Dysmorphophobie (Körperschemastörung) als Begleiterkrankung
- Ständige Furcht vor einer Gewichtszunahme
- Kontrollverhalten: Häufiges Wiegen, Kalorienzählen
- Gewichtsschwankungen: Gewichtszunahme oder Gewichtsabnahme
Wie wird eine Essstörung diagnostiziert?
Die Diagnose einer Essstörung gestaltet sich oft schwierig. Denn viele Betroffene versuchen, ihre Essstörung geheim zu halten. Eine Heilung kann grundsätzlich nur stattfinden, wenn der*die Erkrankte bereit für diesen Schritt ist.
Ist dies der Fall, kann eine erste Anlaufstelle die hausärztliche Praxis sein. Hier findet zunächst eine körperliche Untersuchung statt. Das ist wichtig, um physische Ursachen für mögliche Symptome auszuschließen und Schäden zu erkennen, die die Essstörung womöglich schon angerichtet hat. Liegt der Verdacht einer Essstörung nahe, wird der*die Betroffene an eine*n Fachärztin*Facharzt überwiesen.
Daneben können sich Erkrankte auch an Beratungs- oder Fachstellen wenden.
Kontaktadressen finden Sie zum Beispiel hier: Beratung für Betroffene und Angehörige
Wichtig: Weder eine Diagnose noch Unter- oder Übergewicht sind Voraussetzungen, um therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele Betroffene haben Hemmungen, wenn ihre Essstörung nicht offiziell diagnostiziert wurde oder man ihnen die Essstörung nicht ansieht. Dabei verdient jede*r Mensch Unterstützung – ein „(nicht) krank genug“ gibt es nicht!
Mögliche Folgen einer Essstörung
Essstörungen sind erstzunehmende Erkrankungen, die in bis zu zehn Prozent der Fälle tödlich enden. Magersucht, Bulimie, Binge-Eating etc. können sowohl psychische als auch körperliche Folgen haben.
Mögliche psychische Folgen einer Essstörung:
- Begleitende seelische Störungen wie Depression, depressive Verstimmung oder Borderline-Syndrom
- Antriebslosigkeit, innere Unruhe
- Konzentrationsschwäche, was zu einem beruflichen oder schulischen Leistungsabfall führen kann
- Sozialer Rückzug: Absagen von Aktivitäten, körperliches Vermeidungsverhalten
- Substanzmissbrauch, der zu Abhängigkeit führen kann
Mögliche körperliche Folgen einer Essstörung:
- Zyklusstörungen (Ausbleiben der Periode durch sekundäre Amenorrhoe) und damit einhergehende Unfruchtbarkeit
- Haarausfall und brüchige Nägel sowie trockene, schuppige Haut
- Flaumartige Behaarung an einigen Körperstellen sowie häufiges Frieren
- Magen-Darm-Beschwerden, Bauchspeicheldrüsenentzündung und Sodbrennen
- Nährstoffmangel durch Unterernährung oder einseitige Ernährung
- Immunschwäche
- Osteoporose, Muskelkrämpfe und Muskelschwäche
- Schäden der Niere und Wassereinlagerungen (Ödeme)
- Schwindel und Ohnmacht
- Schädigung von Zähnen, Rachen und Speiseröhre (insbesondere bei Bulimie durch die Säure des Erbrochenen)
- Schwellung der Ohrspeicheldrüsen (sog. „Hamsterbäckchen“, ebenfalls typisch bei Bulimiker*innen durch Erbrechen)
- Herz-Kreislauf-Beschwerden bis hin zu Herzrhythmusstörungen und Herzstillstand
Wie werden Essstörungen behandelt?
Die Behandlung richtet sich nach Art der Essstörung. Ziel der Therapie ist es grundsätzlich, zu einem gesunden Essverhalten zurückzufinden. Der Weg dorthin kann auf unterschiedliche Weise erfolgen.
Welche Therapieprogramme gibt es?
Als wichtiger Baustein gilt die Psychotherapie. Sie soll Betroffenen dabei helfen, die Ursachen für ihre Essstörung aufzuspüren und aufzuarbeiten. Auch Verhaltenstherapien oder Ansprechstellen wie Selbsthilfegruppen können eine Möglichkeit sein. In einigen Fällen ist eine stationäre Aufnahme sinnvoll. Daneben kann auch eine Behandlung in einer Tagesklinik erfolgen.
Je nach Art und Ausprägung der Essstörung ist es wichtig, auch mögliche körperliche Beschwerden ärztlich behandeln zu lassen.
In Deutschland besteht ein Mangel an psychotherapeutischen Angeboten. Viele Erkrankte, die akut Hilfe benötigen, landen deshalb erst einmal auf der Warteliste. Um die Wartezeit zu überbrücken, können Betroffene zunächst auf Online-Therapien wie Selfapy zurückgreifen. Das ersetzt zwar keine herkömmliche Therapie, kann aber in dringenden Fällen eine gute erste Anlaufstelle sein.
Essstörungen: Verlauf und Prognose
Grundsätzlich gilt: Je eher eine Essstörung erkannt und behandelt wird, desto besser stehen die Chancen auf Heilung.
- Statistiken zufolge kann jede zweite Essstörung erfolgreich behandelt werden.
- In 30 Prozent der Fälle verbessert sich der Zustand der Betroffenen, einige krankhafte Verhaltensmuster bleiben jedoch bestehen.
- 20 Prozent der Erkrankten genesen nicht oder erst nach vielen Jahren, ihre Essstörung nimmt einen langwierigen Verlauf, der bis ins hohe Erwachsenenalter reichen kann.
Als wichtige Voraussetzung für eine Heilung muss der*die Patient*in zu einer Therapie bereit sein. Hilfreich ist hierbei ein stabiles soziales Umfeld, das unterstützt.