Zwei Jogger machen Dehnübungen.
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Ingo Froböse: "Dehnen wird völlig überschätzt"

Von: Lydia Klöckner (Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 03.01.2022

Dehnen ist ein schöner Schmerz. Man hat das Gefühl, den Muskeln etwas Gutes zu tun. Doch ist das wirklich so? Der Sportwissenschaftler Ingo Froböse erklärt, was genau Dehnen bewirkt, wann es sinnvoll ist und wann man es lieber sein lassen sollte.

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

Ingo Froböse: "Dehnen wird völlig überschätzt"

Onmeda.de:Herr Professor Froböse, die meisten Fitnesskurse und Work-outs beginnen oder enden mit Dehnübungen. Viele Studios bieten sogar reine Stretching-Kurse an. Ist das sinnvoll?

Prof. Ingo Froböse: Das kommt ganz darauf an, mit welchem Ziel man den Muskel dehnt: Will man ihn aufwärmen? Oder die Mobilität des Gelenks verbessern? Was genau sollen die Übungen bewirken?

Was genau bewirkt denn Dehnen?

Froböse: Der Muskel wird in die Länge gezogen. Man kann sich das vorstellen wie verschränkte Finger, die man voneinander löst: Die Eiweißfilamente, aus denen der Muskel aufgebaut ist, werden auseinandergezogen.

Wenn Sie sich keine Zeit für Bewegung nehmen, dann werden Sie sich bald sehr viel Zeit für Ihre Krankheiten nehmen müssen!

Prof. Ingo Froböse

Wozu ist das nötig?

Froböse: Notwendig ist Dehnen eigentlich nur bei Menschen, deren Beweglichkeit eingeschränkt ist, oder bei Sportlern, die die Beweglichkeit bestimmter Gelenke gezielt über das normale Maß hinaus steigern wollen. Speerwerfer zum Beispiel brauchen bewegliche Schultergelenke, um beim Werfen weit ausholen zu können. Turner brauchen besonders bewegliche Hüft- und Beingelenke, um einen Spagat vollführen zu können.

Was ist mit Nichtsportlern, die viel am Schreibtisch sitzen und deren Muskulatur verkürzt ist?

Froböse: Für mich ist "verkürzt" ein Unwort, denn die Muskeln werden nur selten wirklich kürzer, sondern sie verkleben meist. Bewegt man sich zu wenig, verlangsamt sich der Stoffwechsel in der Muskulatur und diese wird schlechter mit Flüssigkeit und Nährstoffen versorgt.

Das hat zur Folge, dass die Flüssigkeit im Muskel zäh wird und die Verschiebebewegungen nicht mehr so geschmeidig ablaufen. Die Strukturen verharren in der verschränkten Stellung, sie verkleben tatsächlich regelrecht. Um sie voneinander zu lösen, muss man den Stoffwechsel in den Muskeln anregen, damit sie wieder besser mit Flüssigkeit versorgt werden. Das erreicht man mit jeder Art von Bewegung, nicht nur mit Dehnübungen.

Anstatt sich zu dehnen, könnte man also auch Gymnastik machen oder spazieren gehen?

Froböse: Wenn es darum geht, steife Muskeln zu mobilisieren, ja. Das Entscheidende ist, dass man den verklebten Muskel anspannt, damit der Stoffwechsel aktiviert wird.

Dennoch hört und liest man immer wieder, Dehnen sei so wichtig, etwa um Muskelkater vorzubeugen.

Froböse: Dehnen wird im Allgemeinen völlig überschätzt. Muskelkater ist eine Entzündungsreaktion des Muskels, die sich durch Dehnübungen nicht verhindern lässt.

Helfen Dehnübungen denn gegen bestehenden Muskelkater?

Froböse: Muskelkater entsteht, wenn Muskeln stark beansprucht werden. In den Muskelfasern bilden sich dann kleine Risse, die der Körper nach dem Training erst einmal reparieren muss. Dazu transportiert das Immunsystem Entzündungszellen in die Muskelfasern, wodurch diese aufquellen. Der Muskel schwillt an, was ein Spannungsgefühl hervorruft.

Das ist nicht schlimm, die Gewebeschädigungen haben ja auch einen positiven Effekt: Der Reiz stimuliert den Muskelaufbau. Beansprucht man den Muskel aber zusätzlich durch Dehnübungen, riskiert man, den Muskel bei der Heilung und beim Wachstum zu stören.

Warum fühlt es sich dann so gut an, verkaterte Muskeln zu dehnen?

Froböse: Vermutlich, weil die Bewegung den Stoffwechsel anregt und den Lymphfluss fördert. Der Schrott, der bei der Reparatur des Gewebes anfällt, wird schneller abtransportiert, was die Schwellung vorübergehend vermindert und somit das Spannungsgefühl lindert.

Dehnen hilft also doch?

Froböse: Leicht stimulierende Bewegungen, die den Stoffwechsel aktivieren, können helfen. Dehnübungen sollte man bei Muskelkater und nach dem Krafttraining aber vermeiden, weil sie zusätzliche Muskelverletzungen verursachen können und somit den Heilungsprozess aufhalten.

Manche Läufer dehnen sich zwischen den Runden. Was halten Sie davon?

Froböse: Wenn man auf Sprint-Geschwindigkeit trainiert, ist das sogar eher kontraproduktiv. Dehnen reduziert den Tonus der Muskeln, erhöht die Flexibilität der Gelenke und vermindert vorübergehend deren Stabilität. Dehnt ein Sprinter seine Beinmuskeln vor einem Lauf, werden die Knie und Fußgelenke daher zunächst instabiler.

Für ihre Stabilisierung müssen die Beinmuskeln mehr Kraft aufwenden, die ihnen dann für die Beschleunigung des Lauftempos fehlt. Der Läufer wird also langsamer, wenn er sich vor oder während des Trainings dehnt – auch weil der Muskeltonus und damit die Vorspannung zu gering ist.

Gibt es Muskeln, die man grundsätzlich auf gar keinen Fall dehnen sollte?

Froböse: Sagen wir so: Für bestimmte Sportarten sollte man bestimmte Muskelgruppen lieber stärken und stabilisieren als dehnen. Schwimmer opfern die Beweglichkeit des Rumpfes zugunsten eines großen Rückenmuskels. Fußballer nehmen für einen kräftigen Schuss die limitierte Beweglichkeit ihrer Beine in Kauf.

Und Nichtsportler?

Froböse: Nichtsportlern würde ich empfehlen, sich nur zu dehnen, wenn sie in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind. Und auch nur so weit, dass der Muskel nicht überdehnt wird. Viel wichtiger als Dehnen ist aber regelmäßige Bewegung, bei der möglichst der ganze Körper beansprucht wird. Spazieren, Fahrradfahren, Schwimmen, Fußball: Ganz egal, Hauptsache Sie bleiben in Bewegung.

Herr Professor Froböse, vielen Dank für dieses Gespräch!