Ableismus: Was ist das und wie kann man ihm entgegenwirken?
Nachdem im April 2021 vier Menschen mit Behinderung Opfer einer Tötungsserie geworden sind, ist der Begriff "Ableismus" in aller Munde. Ableismus bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung. In diesem extremen Fall endete sie tödlich. Doch auch im Alltag sind beeinträchtigte Menschen Ableismus ausgesetzt. Auch vermeintlich harmlose oder sogar gut gemeinte Verhaltensweisen können bei Betroffenen Schaden anrichten.
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Was ist Ableismus?
Ableismus leitet sich von dem englischen Wort "able" (= fähig sein) ab. Der Begriff bezeichnet die Auf- oder Abwertung von Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Betroffene werden also danach bewertet, was sie aufgrund ihrer Einschränkung können oder nicht können.
Ein Beispiel:
Herr Müller steht morgens beim Bäcker an. Er ist blind und braucht deshalb ein wenig länger Zeit für den Bezahlvorgang. Der Verkäufer ist genervt und fragt: "Müssen Sie denn ausgerechnet um diese Zeit kommen, wenn es so voll ist?" Herr Müller antwortet, dass er auf dem Weg zur Arbeit ist und er sich den Kaffee für die Zugfahrt holt. Daraufhin schlägt die Abwertung des Verkäufers in Bewunderung um: "Toll, dass Sie trotz allem einen Job haben und arbeiten."
Hier wird deutlich, dass der Verkäufer Herrn Müller auf seine Sehbehinderung reduziert und ihn anhand seiner Handlungsfähigkeiten zuerst abwertet, dann aufwertet.
Bei ableistischen Verhaltensweisen wie diesen orientieren sich die Bewertenden, auch "Ableds" genannt, an einer erwünschten biologischen (körperlichen oder geistigen) Norm. Nach dieser Denkweise handeln Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung immer nur "wegen" oder "trotz" ihrer Einschränkung. Typischerweise werden Betroffene zum Beispiel
- abgewertet und diskriminiert, wenn sie etwas nicht gut können,
- aber auch in besonderem Maße gelobt und aufgewertet, wenn ihnen einfache Dinge gelingen.
Beide Fälle beschreiben eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, die sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen kann. Eine Aufwertung mag zwar gut gemeint sein. Anerkennung, die sich ausschließlich auf die Einschränkung eines Menschen bezieht, kann aber ebenso problematisch sein wie Abwertungen. Besonders schwierig wird es, wenn wohlmeinende Menschen sich gegenüber Menschen mit Behinderung oder Erkrankung grenzverletzend verhalten und im Gegenzug Dank erwarten, etwa für aufgezwungene, unerwünschte Hilfestellung oder Bevormundung. Das bringt die Betroffenen in eine unangenehme Lage.
Ableds teilen Menschen in Gruppen ein und grenzen sich von beeinträchtigten Personen ab. Diese Unterscheidung zwischen "Ich/Wir" und "Die" nennt man Othering. Ableismus kommt in allen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen vor, nämlich überall dort, wo Menschen mit und ohne Behinderung oder Erkrankung aufeinandertreffen. Ableismus beschreibt aber nicht nur konkrete zwischenmenschliche Situationen, sondern auch Barrieren, die den Alltag der Betroffenen erschweren, etwa durch
- fehlende Unterstützung in Bildungseinrichtungen,
- bauliche Gegebenheiten,
- digitale Barrieren,
- fehlende öffentliche Sichtbarkeit.
Ableismus im Gesundheitswesen
Ein Bereich, in dem häufig Fälle von Ableismus bekannt werden, ist das Gesundheitswesen. Das liegt zum einen daran, dass Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung vergleichsweise häufiger auf medizinische Versorgung angewiesen sind als Menschen ohne Beeinträchtigung. Dementsprechend können sich die Betroffenen den Diskriminierungen kaum entziehen. Missstände im Gesundheitswesen und vor allem in der Pflege wie Unterbesetzung und geringe Bezahlung verstärken das Phänomen noch.
Folgen von Ableismus
Nicht alle ableistischen Verhaltensweisen sind böswillig gemeint. Gewisse Aussagen, vor allem Aufwertungen, können sogar als vermeintliches Kompliment gemeint sein. Die strukturelle Reduzierung eines Menschen auf seine Beeinträchtigung sollte aber niemals legitim sein. Denn für Betroffene ist Ableismus sehr verletzend. Ableistische Verhaltensweisen können weitreichende Folgen haben:
- Hoher Leidensdruck im Alltag
- Sozialer Rückzug und Unsicherheit
- Identitätsprobleme
- Resignation und Hilflosigkeit
- Verlust der Autonomie und das Gefühl der Bevormundung und Fremdbestimmtheit
- Ärger und Aggression
- Konkrete Folgen, z. B. für den beruflichen Werdegang oder die Freizeitgestaltung
Tipps für Betroffene
Auch, wenn die Betroffenen nicht Ursache des Problems sind, sollten sie sich nicht mit ableistischen Verhaltensweisen abfinden und verletzende und behindertenfeindliche Äußerungen nicht über sich ergehen lassen. Das kann helfen:
- Der Austausch mit anderen Betroffenen
- Sich der eigenen Würde und des eigenen Anspruchs auf Wertschätzung bewusst werden
- Sich wehren und schützen: Offen kommunizieren, wenn man bestimmte Verhaltensweisen als verletzend empfindet
- Hilfe suchen: Therapeutische Hilfe, aber auch Beschwerdestellen, Gleichstellungsbeauftragte oder einen Rechtsbeistand einbeziehen
- Negative Gefühle wie Wut oder Ohnmacht kanalisieren: Tagebuch schreiben, Musik hören, spazieren gehen, Sport treiben
- Mit Gegenfragen reagieren, Antworten im Vorfeld zurechtlegen
Ableismus vermeiden
Ableismus findet nicht immer bewusst und böswillig statt. Häufig sind Menschen überfordert und unsicher, wenn sie auf beeinträchtigte oder erkrankte Personen treffen. Sie haben womöglich keine Erfahrung auf diesem Gebiet und verspüren Berührungsängste. In diesem Fall kann es helfen, die Mechanismen des Ableismus zu kennen und zu versuchen, sich in die Betroffenen hineinzuversetzen. Auf diese Weise können Sie oder kann man einen respektvollen, nicht verletzenden Umgang mit behinderten oder erkrankten Menschen erlernen. Folgende Grundregeln können dabei helfen:
1. Die*den Betroffene*n ernst nehmen
Ein Mensch mit Behinderung oder Erkrankung ist ein Mensch wie jeder andere auch. Wenn Sie sich unsicher sind, zu welchen Handlungen er in der Lage ist, sprechen Sie ihn einfach offen an und fragen Sie nach, statt ihn über Dritte anzusprechen. Viele tendieren dazu, beeinträchtigte Menschen nicht auf Augenhöhe zu sehen. Behalten Sie im Hinterkopf: Eine körperliche Behinderung bedeutet nicht, dass die*der Betroffene auch geistig eingeschränkt ist – und umgekehrt.
2. Bevormunden Sie die*den Betroffene*n nicht
"Ich mache das eben, das geht schneller." Mit solchen Aussagen nehmen Sie der*dem Betroffenen die eigene Autonomie und zeigen, dass Sie ihr*ihm nichts zutrauen. Auch, wenn bestimmte Tätigkeiten womöglich länger dauern: Bevormunden Sie die Person nicht. Natürlich können Sie auf respektvolle Weise eine Hilfestellung anbieten. Wenn diese abgelehnt wird, sollten Sie darauf aber weder mit Ärger noch mit übermäßigem Lob reagieren.
3. Schubladendenken vermeiden
Es gibt unzählige verschiedene Behinderungen und Erkrankungen. Einige sieht man, andere nicht. Fakt ist aber: Was man sieht oder nicht sieht, ist kein Hinweis auf den Zustand oder die Fähigkeiten eines Menschen. Vermeiden Sie daher Aussagen wie: "Man sieht Ihnen Ihre Behinderung ja gar nicht an." Damit drängen Sie die*den Betroffenen dazu, sich zu rechtfertigen und grenzen behinderte Menschen von nicht-behinderten Menschen ab.
4. Mitleid vs. Empathie
Eine Behinderung oder Erkrankung definiert nicht den Menschen als solchen. Jeder Mensch hat zahlreiche Facetten und ist mehr als seine Beeinträchtigung. Betrachten Sie ihn daher als Mensch im Gesamten – mit allen Wesenszügen, Eigenschaften und Möglichkeiten. Vermeiden Sie zudem Sätze wie "Toll, was Sie trotz der Behinderung aus Ihrem Leben machen." Denn wer bestimmt, wie sich ein Mensch aufgrund oder trotz einer Einschränkung zu fühlen hat? Empathie und Bewunderung können Sie auch auf andere Weise ausdrücken, etwa durch Komplimente, die die Person nicht auf ihre Einschränkung reduziert: "Mir gefällt Ihre positive Ausstrahlung." oder "Sie lassen sich nicht unterkriegen, das finde ich toll."
Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass Diversität einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft bekommt. So werden zum Beispiel Stimmen laut, dass das Thema Behinderung kein medizinisches oder soziales Problem sein, sondern als Menschenrechtsthema behandelt werden sollte. Damit sich der Umgang der (nichtbehinderten) Mehrheitsgesellschaft mit Menschen mit Behinderung oder Erkrankung nachhaltig ändert, ist jede*r Einzelne gefragt.