Amnesie: Eine ältere Frau leidet unter Gedächtnisverlust und scheint frustriert.
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Amnesie: Wie kommt es zum Gedächtnisverlust?

Von: Brit Weirich (Medizinautorin, M.A. Mehrsprachige Kommunikation)
Letzte Aktualisierung: 27.01.2022

Vorübergehende Erinnerungslücken oder Vergesslichkeit kennen viele Menschen. Wenn man sich kaum noch oder gar nicht mehr in der Lage dazu fühlt, neue Erinnerungen zu speichern oder vorhandene Erinnerungen abzurufen, kann das auf eine Amnesie hindeuten. Der Gedächtnisverlust ist für Betroffene und ihre Angehörigen mit einem hohen Leidensdruck verbunden. Erfahren Sie, welche Ursachen hinter einer Amnesie stecken können, welche Formen der Gedächtnisstörung es gibt und wie sie sich behandeln lassen. 

Was ist Amnesie?

Eine Amnesie (griech. mnémē = Erinnerung, Gedächtnis) bezeichnet einen Gedächtnisverlust, der unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Betroffene sind nicht mehr oder nur noch eingeschränkt dazu in der Lage

  • neue Gedächtnisinhalte zu speichern
  • und/oder alte Gedächtnisinhalte abzurufen.

Ursächlich ist meist eine Schädigung des Gehirns, insbesondere des Hippocampus. Der Hippocampus ist Teil des limbischen Systems und maßgeblich an der Gedächtnisbildung beteiligt: Er ist die Schaltstelle zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis.

Die Gehirnregion, in der Handlungsabläufe gespeichert werden, sind dagegen meist nicht beeinträchtigt. Tätigkeiten wie Essen, Laufen oder sich die Schuhe Zubinden stellen deshalb in der Regel kein Problem dar.

In Deutschland werden jährlich rund 10.000 Fälle von Amnesie diagnostiziert. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Meist erkranken ältere Menschen ab dem 50. Lebensjahr. 

Eine Amnesie ist keine Erkrankung, sondern wird vielmehr als Begleitsymptom verstanden, da der Gedächtnisverlust in der Regel im Zuge einer Erkrankung oder als Folge eines konkreten Ereignisses, etwa eines Unfalls auftritt. 

Formen der Amnesie

Fachleute unterscheiden verschiedene Formen der Amnesie, die sich teilweise überschneiden oder kombiniert auftreten.

Anterograde Amnesie (vorwärtswirkende Amnesie)

Dies ist die häufigste Form der Amnesie. Hier können Betroffene nur noch eingeschränkt neue Informationen abspeichern. Neue Inhalte werden teilweise nur wenige Minuten im Gedächtnis behalten und dann wieder vergessen. Dieser Effekt kann auch vorübergehend sein. Bereits vorhandene Erinnerungen aus dem Zeitraum vor der Hirnschädigung bleiben hingegen abrufbar.

Retrograde Amnesie (rückwirkende Amnesie)

Bei der retrograden Amnesie (kurz: RA) haben Betroffene keinen Zugriff mehr auf Erinnerungen aus dem Zeitraum vor einer Hirnschädigung. Bei dieser Form des Gedächtnisverlusts handelt es sich meist nur um einen kurzen Zeitraum, der nicht mehr abrufbar ist – etwa von wenigen Minuten oder Stunden.  

Kongrade Amnesie

Bei der kongraden Gedächtnisstörung haben Betroffene keinen Zugriff auf das schädigende Ereignis mehr – sei es physischer oder psychischer Natur. So können sich Personen, die an dieser Form der Amnesie leiden, zum Beispiel nicht an den Unfallhergang erinnern, der zu dem Trauma geführt hat.

Globale Amnesie

Die globale Gedächtnisstörung vereint die anterograde mit der retrograden Amnesie: Betroffene können weder neue Inhalte speichern noch auf zurückliegende Erinnerungen zugreifen. Damit ist diese Form der Amnesie die gravierendste. Zudem ist sie irreversibel.

Transient globale Amnesie

Die transient globale Amnesie ist eine Unterform der globalen Amnesie. Hier hat der*die Betroffene keinen Zugriff auf zurückliegende Erfahrungen und kann auch keine neuen Informationen abspeichern. Diese Form hält aber im Gegensatz zur globalen Amnesie nur für einen kurzen Zeitraum – meist wenige Stunden – an.

Dissoziative Amnesie

Von einer dissoziativen Amnesie sprechen Fachleute, wenn sich der Gedächtnisverlust nicht auf eine körperliche Ursache zurückführen lässt, sondern durch eine psychische Störung ausgelöst wird. Betroffene können nicht mehr auf Informationen zurückgreifen, die Teil ihrer eigenen Autobiographie sind. Sie verdrängen etwa, wer sie sind, wo sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehalten haben oder was sie in einer Situation wahrgenommen, gedacht oder gefühlt haben. Ursächlich sind zum Beispiel Traumata wie sexueller oder emotionaler Missbrauch, Unfälle oder der Tod einer nahestehenden Person.

Sensomotorische Amnesie

Die sensomotorische Amnesie (SMA) bezeichnet den Kontrollverlust über verschiedene Muskelgruppen und Körperareale. Dazu kann es zum Beispiel durch Stress, Traumata oder belastende Lebensumstände kommen. Aber auch ungünstige Bewegungsmuster, etwa stundenlanges Sitzen im Büro, oder eine Schonhaltung bei Verletzungen führen mitunter zur sensomotorischen Amnesie. Diese Form der Amnesie ist erlernt und kann mithilfe einer entsprechenden Therapie auch wieder „verlernt“ werden.

Infantile Amnesie (Kindheitsamnesie)

Die infantile Amnesie bezeichnet keine Störung, sondern beschreibt das Phänomen, dass sich Erwachsene nicht an Ereignisse vor ihrem dritten Lebensjahr erinnern können. Zwar meinen viele Menschen, sich an weiter zurückliegende Situationen zu erinnern. Untersuchungen haben aber ergeben, dass es sich dabei meist um einen Trugschluss handelt: Solche Gedächtnistäuschungen können etwa von Erzählungen oder Fotos herrühren, die man fälschlicherweise für die eigenen Erinnerungen hält. Erinnerungen sind aufgrund der kognitiven Entwicklung laut aktuellem Kenntnisstand tatsächlich erst ab dem dritten Lebensjahr möglich.

Ursachen

Eine Gedächtnisstörung kann verschiedene Ursachen haben. Häufig tritt eine Amnesie als Begleiterscheinung diverser Erkrankungen auf. In diesem Fall haben Betroffene oft einen besonders hohen Leidensdruck, da die ohnehin belastende Amnesie von den Beschwerden der Grunderkrankung begleitet wird. Auch Traumata nach Unfällen, die zu Kopfverletzungen führen und häufig mit Bewusstlosigkeit einhergehen, gelten als typischer Auslöser für eine Amnesie. Dabei können Nervenzellen mitunter irreversibel geschädigt werden.

Wie genau Hirnverletzungen und Amnesien zusammenhängen, ist allerdings noch unklar. Sicher wissen Expert*innen nur, dass die Gehirnbereiche beeinträchtigt werden, die für die Speicherung und den Abruf von Informationen zuständig sind.

Unterschieden wird zwischen der organisch bedingten Amnesie und der psychogen bedingten Amnesie.

Organische Auslöser lassen sich auf Hirnschädigungen zurückführen. Diese können entweder unmittelbar, etwa in Folge eines Unfalls, oder zeitverzögert als Spätfolge, etwa durch Alkoholmissbrauch auftreten. Mögliche organische Ursachen für eine Amnesie sind:

Daneben kann es in seltenen Fällen auch als Nebenwirkung einer Elektrokrampftherapie (EKT) zu einer retrograden Amnesie kommen. Dabei handelt es sich um eine Therapie zur Behandlung verschiedener psychischer Erkrankungen, bei denen andere Methoden nicht anschlagen. Die Elektrokrampftherapie ist umstritten. Verschiedene Studien deuten aber darauf hin, dass sie durchaus wirksam sein kann.

Absichtlich herbeigeführte Amnesie

Narkosemittel können ebenfalls eine Amnesie hervorrufen. Das ist mitunter sogar erwünscht, damit sich Patient*innen nicht mehr an eine Operation und den mit dem Eingriff verbundenen Schmerzen erinnern. Die Medikamente hemmen die sogenannten GABA-Rezeptoren. Dadurch kommt es während der Wirkzeit des Narkosemittels – und nur dann – zu einem Bewusstseinsverlust. Sobald das Medikament abgebaut wird, ist die Gedächtnisfunktion nicht mehr beeinträchtigt.

Psychogene Auslöser für Amnesien sind in der Regel seelische Belastungen oder traumatische Lebensereignisse, die eine Verdrängung nach sich ziehen, etwa:

  • Sexueller oder emotionaler Missbrauch
  • Körperliche oder emotionale Gewalt
  • Unfälle, Naturkatastrophen oder Kriege
  • Belastende Lebensumstände, etwa finanzielle oder existenzielle Sorgen

Mediziner*innen sprechen bei dieser Form des Gedächtnisverlustes auch von einer Art Schutzmechanismus. Neben traumatischen Lebensereignissen können auch innere Konflikte wie Schuldgefühle zu einer Amnesie führen. So weiß man zum Beispiel, dass einige Menschen nach einem begangenen Verbrechen in der Lage sind, ihre Tat vollständig zu verdrängen. 

Diagnose

Bei Verdacht auf Amnesie sollten Betroffene ärztlichen Rat einholen. Zuständig sind Fachärztinnen*Fachärzte für Neurologie oder Neuropsychologie. Als erste Anlaufstelle kann aber auch die Hausarztpraxis aufgesucht werden. Um eine Amnesie zu diagnostizieren, wird die*der Ärztin*Arzt zunächst eine Anamnese durchführen und den*die Patient*in zu den Symptomen befragen. Relevant für die Diagnose sind etwa Fragen wie:

  • wann die Erinnerungslücken erstmals aufgetreten sind,
  • in welchem Umfang sich die Gedächtnisstörung zeigt,
  • ob sie mit einem erkennbaren Ereignis zusammenhängen
  • und welche Beschwerden außerdem auftreten.

Je genauer der*die Patient*in die Symptome beschreiben kann, desto präziser kann eine Diagnose gelingen. Wenn die Amnesie schon sehr ausgeprägt ist, sollte möglichst eine Begleitperson hinzugezogen werden.

Aufschlussreich ist für die*den Ärztin*Arzt auch, ob neben dem Gedächtnisverlust möglicherweise folgende Symptome auftreten:

Verschiedene Gedächtnistests sind ebenfalls relevant, um eine Amnesie zu diagnostizieren. So kann festgestellt werden, ob Kurz- und Langzeitgedächtnis intakt sind. Bestandteil solcher Tests können zum Beispiel die Überprüfung der Merkspanne sein sowie die Fähigkeit, komplexe Informationen widerzugeben. Auch die Orientierungsfähigkeit wird untersucht.

Mögliche weitere Untersuchungen sind:

Therapie

Die Art der Behandlung sowie das Behandlungsziel richten sich nach Form und Ausprägung der diagnostizierten Amnesie. Einige Amnesieformen bilden sich mit der Zeit von selbst zurück, da sie nur vorrübergehend auftreten – so zum Beispiel die anterograde Amnesie. Mitunter kann auch ein Gedächtnistraining helfen. Wie effektiv dies ist, hängt nicht nur von der Ursache der Amnesie ab, sondern auch von der Dauer und Häufigkeit des Trainings.

Behandlung einer globalen Amnesie

Betroffenen mit einer schweren globalen Amnesie werden solche kognitiven Übungen nicht empfohlen. Derzeit gibt es keine Evidenz, die eine Wirkung bei dieser Amnesieform belegt. Entsprechend könnte ein Gedächtnistraining eher zu Frustration führen und damit den Leidensdruck erhöhen.

Stattdessen können Betroffene versuchen, Kompensationsstrategien zu erlernen und Hilfsmittel wie elektronische Erinnerungshilfen in ihren Alltag einzubauen. Inzwischen gibt es zahlreiche Programme und Apps für das Smartphone. Je nach Ausprägung der Amnesie kann jedoch auch die Smartphone-Verwendung eine Hürde darstellen. Deshalb sollte die Benutzung in der Therapie geübt werden. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft der*des Betroffenen. Mitunter kommen auch alternative Behandlungsmethoden, etwa die Hypnose zum Einsatz. Ihre Wirkung bei Amnesie ist bislang aber nicht ausreichend belegt.

Psychotherapeutische Behandlung

Patient*innen, deren Amnesie psychogen bedingt ist, können mögliche ursächliche Traumata mithilfe einer Psychotherapie aufarbeiten. Eine Psychotherapie kann aber auch Betroffenen helfen, die an einer organisch bedingten Amnesie leiden. Wenn Menschen einen Teil ihrer Erinnerungen verlieren, kann das sehr irritierend und verunsichernd sein. Immerhin geht damit ein Stück weit auch der Verlust der eigenen Identität einher. Aus diesem Grund ist der Leidensdruck bei Amnesien oftmals sehr hoch und kann behandlungsbedürftig sein– sowohl für Betroffene als auch ihre Angehörigen. 

Vorbeugen

Einer Amnesie kann man nur bedingt vorbeugen. Viele Ursachen der Gedächtnisstörung lassen sich nicht beeinflussen. Ein gesunder Lebensstil kann aber einige Risikofaktoren eindämmen. Wer sich ausgewogen ernährt, Alkohol nur in Maßen konsumiert und sich regelmäßig bewegt, senkt das Risiko für Erkrankungen, die wiederum eine Amnesie auslösen können.

Hilfreich kann zudem Gedächtnistraining sein. Das Gedächtnis ist wie ein Muskelapparat, und dieser lässt sich wie jeder andere Muskel auch fordern und trainieren.