Trichotillomanie: Der Zwang, sich die Haare auszureißen
Jeder Mensch hat sich schon mal ein Haar ausgerupft – sei es aus Versehen oder auch mit Absicht, etwa um erste graue Strähnchen zu entfernen. Bei Personen mit Trichotillomanie nimmt das Haareausreißen jedoch krankhafte Züge an. Betroffene der "Haarrupfsucht" verspüren den zwanghaften Drang, sich mitunter sogar ganze Büschel vom Kopf zu reißen. Welche Ursachen stecken hinter der psychischen Erkrankung und wie lässt sie sich behandeln?
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Was ist Trichotillomanie?
Die Trichotillomanie ist eine psychische Erkrankung, die zu den Impulskontrollstörungen zählt: Betroffene können den Drang, sich die Haare auszurupfen, nicht kontrollieren – auch, wenn dies mit Schmerzen verbunden ist. Meist setzt der Impuls dazu ein, wenn sich die betroffenen Personen unter Druck fühlen und unter innerer Anspannung stehen. Das Ausreißen der Haare dient nicht etwa kosmetischen Zwecken. Vielmehr verschafft ihnen die Prozedur Entspannung, mitunter sogar ein Gefühl von Befriedigung.
Wer ist betroffen?
Trichotillomanie betrifft vor allem Kinder und Jugendliche: Sie leiden rund siebenmal häufiger unter der Haarrupfsucht als Erwachsene. Vor allem zwischen dem fünften und dem achten Lebensjahr sowie in der Pubertät tritt die Störung auf. Frauen neigen stärker zu Trichotillomanie als Männer: Schätzungsweise 35 von 1.000 Frauen leiden an der Impulskontrollstörung, bei Männern sind es lediglich 16 von 1.000.
Fachleute unterscheiden zwei Formen der Erkrankung:
- Die frühe Form der Trichotillomanie beginnt vor dem sechsten Lebensjahr. Sie hält häufig nur über einen kurzen Zeitraum an und lässt sich meist durch Gespräche mit dem Kind wieder beheben.
- Die späte Form der Trichotillomanie setzt ab der frühen Pubertät, also im Alter von zwölf oder 13 Jahren ein und führt oft zu einer chronischen Störung. Der Drang, sich die Haare auszureißen, kann phasenweise jedoch stärker oder schwächer ausgeprägt sein.
Komorbide Störungen bei Trichotillomanie
Trichotillomanie tritt selten allein auf, sondern meist gemeinsam mit anderen psychischen Störungen. Häufige Begleiterkrankungen sind etwa
- weitere Impulskontrollstörungen wie Skin Picking (Dermatillomanie) oder Nägelkauen,
- Essstörungen,
- Angst- und Zwangserkrankungen,
- neuro-psychiatrische Erkrankungen wie Tic-Störungen und Tourette-Syndrom,
- Affektstörungen wie beispielsweise Depressionen oder Substanzmissbrauch.
Essen von Haaren: Trichophagie
Gelegentlich ist die Haarrupfsucht mit einer weiteren Verhaltensstörung verknüpft: Menschen, die an Trichophagie leiden, essen ihre Haare auf. Umgangssprachlich wird die Erkrankung auch als Rapunzelsyndrom bezeichnet. Hier besteht die Gefahr, dass sich im Magen oder Darm ein unverdaulicher Haarball, ein sogenannter Trichobezoar bildet. Die Folge kann ein Darmverschluss (Ileus) sein. Das Essen von Haaren kann auch im Rahmen des Pica-Syndroms auftreten. Betroffene der seltenen Essstörung verzehren Dinge, die allgemein als ungenießbar gelten – etwa Lehm, Erde, Papier oder eben Haare.
Trichotillomanie: Welche Ursachen sind möglich?
Bislang ist unklar, welche Ursachen für Trichotillomanie verantwortlich sind. Fachleute vermuten eine Kombination mehrerer Faktoren. Neben genetischer Vorbelastung und neurobiologischen Erklärungsansätzen scheinen einige Menschen in belastenden oder stressigen Situationen eine besonders hohe innere Anspannung zu empfinden. Fehlen dann effektive Stressbewältigungsmechanismen, greifen Betroffene möglicherweise auf eine Impulskontrollstörung wie Trichotillomanie als Copingstrategie zurück.
Bleibt die Erkrankung lange unentdeckt und in der Folge unbehandelt, so automatisiert sich dieses Verhalten. Entsprechend schwieriger fällt es Betroffenen, dem Impuls zu widerstehen, sich die Haare auszurupfen.
Typische Symptome einer Trichotillomanie
Trichotillomanie fällt meist durch kahle Stellen am Kopf der Betroffenen auf. In einigen Fällen reißen sie sich aber auch Haare aus anderen behaarten Körperregionen aus, etwa aus den Wimpern und Augenbrauen.
Der Drang, sich die Haare auszureißen, kann sich phasenweise verstärken: Das zwanghafte Verhalten tritt häufig in belastenden Lebenssituationen auf – etwa in Phasen der Trauer oder wenn Betroffene unter enormem Stress stehen. Die innere Spannung lässt mit dem Rupfen nach und weicht einem Gefühl der Befriedigung. In einigen Fällen kann auch das Fädenziehen aus Textilien wie Kleidung ein Gefühl der Erleichterung verschaffen.
Typisch bei Trichotillomanie: Sozialer Rückzug
Da sich die Betroffenen meist für das Haareausreißen und die sichtbaren Folgen in Form von kahlen Stellen am Kopf schämen, geht Trichotillomanie häufig mit sozialem Rückzug einher. Damit kommt es oft zu weiteren psychischen Belastungen und Einschränkungen des sozialen Lebens: So meiden Betroffene beispielsweise das Schwimmbad oder die Sauna, da dort die (möglicherweise sonst verdeckten) kahlen Stellen auffallen würden.
Menschen mit Trichotillomanie haben daher oft einen hohen Leidensdruck. Auch verspüren sie häufig Wut auf sich selbst und ihren Kontrollverlust.
Wie wird Trichotillomanie diagnostiziert?
Fachleute vermuten, dass ein Großteil der Trichotillomanie-Fälle nicht diagnostiziert wird, da Betroffene sich häufig für die Erkrankung schämen und daher keinen ärztlichen Rat einholen.
Erste Anlaufstelle bei Verdacht auf Trichotillomanie kann die hausärztliche Praxis sein. Von hier erfolgt dann eine Überweisung zu einem*einer Dermatolog*in.
Trichotillomanie oder Haarausfall?
Oft lässt sich die Impulskontrollstörung schon optisch erkennen und klar von der Symptomatik eines Haarausfalls abgrenzen: Im Unterschied zum Haarausfall (Alopezie) bilden sich bei einer Trichotillomanie in den betroffenen Arealen keine ganz kahlen Stellen, sondern kurze, fast "stoppelige" Resthaare. Zwar ähnelt in einigen Fällen das Erscheinungsbild einer Trichotillomanie dem des kreisrunden Haarausfalls (Alopecia areata). Durch eine Untersuchung der Haare und der umliegenden Hautregion können Fachleute jedoch schnell feststellen, ob der Haarverlust selbst herbeigeführt wurde oder nicht.
Folgende Symptomatik muss erfüllt sein, damit Trichotillomanie diagnostiziert wird:
- Betroffene können den Impuls, sich die Haare auszureißen, nicht unterdrücken – trotz wiederholtem Versuch, den Drang zu stoppen.
- Es besteht ein optisch deutlich sichtbarer Haarverlust, es werden so viele Haare ausgerissen, dass der Haarverlust dem von Haarausfall gleichkommt.
- Betroffene verspüren einen hohen Leidensdruck, der sie in ihrem Alltag deutlich beeinträchtigt und/oder zu einer Verringerung der Leistungsfähigkeit, etwa im Job, führt.
- Der Haarverlust lässt sich nicht auf eine körperliche Erkrankung zurückführen – etwa auf eine Entzündung oder eine Hautkrankheit.
- Auch eine Halluzination oder ein Wahn können als Auslöser für die Trichotillomanie ausgeschlossen werden.
Wie wird Trichotillomanie behandelt?
Grundsätzlich lässt sich Trichotillomanie gut behandeln: Um die Impulskontrollstörung loszuwerden, mit dem zwanghaften Rupfen aufzuhören und den Haaren eine Chance zu geben, wieder gesund zu wachsen, bietet sich eine kognitive Verhaltenstherapie an. Die Betroffenen lernen hier, dem inneren Impuls, sich die Haare auszureißen, zu widerstehen.
Bestandteile der Verhaltenstherapie bei Trichotillomanie:
- Reaktionsumkehr (engl. "Habit Reversal"): Bei der Reaktionsumkehr geht es darum, alternative Verhaltensweise einzuüben, mit denen Betroffene auf den Haarrupf-Impuls reagieren können. Hierzu müssen sie zunächst ein Bewusstsein dafür entwickeln, wann, wie und in welchen Situationen sie zum Haareausreißen neigen. Die trainierten "Ersatzhandlungen", zum Beispiel ein kräftiges Schließen der Faust, sollen das Rupfen dann unmöglich machen.
- Entspannungstechniken: Innere Unruhe und Anspannung verstärken den Drang, sich die Haare auszurupfen in der Regel. Die Betroffenen sollen deshalb lernen, sich bewusst zu entspannen – etwa durch Techniken wie autogenes Training oder Muskelrelaxation, die sie in entsprechenden Situationen anwenden können.
Zusätzlich verspüren Betroffene meist den starken Wunsch, dass ihre Haare möglichst schnell wieder nachwachsen. Hier ist Geduld gefragt, ein Wundermittel gibt es nicht. Da die Haarfollikel aber meist intakt bleiben, stehen die Chancen auf ein baldiges Nachwachsen gut. Um die Zeit zu überbrücken, können Perücken oder Mützen Abhilfe schaffen.
Medikamentöse Therapie bei Trichotillomanie
Einige Studien legen nahe, dass zusätzlich zur Verhaltenstherapie eine Behandlung mit Psychopharmaka, insbesondere mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), wirksam sein kann. Fachleuten zweifeln jedoch an der Aussagekraft der Studien und vermuten einen Placebo-Effekt hinter der positiven Wirkung.