Tourette-Syndrom: Kind zwinkert
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Tourette-Syndrom: Symptome und Behandlung der Tic-Störung

Von: Lydia Klöckner (Medizinredakteurin), Frederike Rausch (Medizinredakteurin)
Letzte Aktualisierung: 03.06.2024

Beim Tourette-Syndrom und anderen Tic-Störungen kommt es zu unwillkürlichen vokalen und motorischen Tics. Welche Symptome treten auf und welche Therapien können Betroffenen helfen?

Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.

FAQ: Häufige Fragen und Antworten zum Tourette-Syndrom

Beim Tourette-Syndrom handelt es sich um eine spezielle Form einer Tic-Störung. Kennzeichnend für die neuropsychiatrische Erkrankung sind motorische und sprachliche Tics.

Die genauen Auslöser des Tourette-Syndroms sind noch nicht geklärt. Fachleute gehen davon aus, dass genetische Faktoren ebenso wie Umweltfaktoren (etwa Sauerstoffmangel während der Geburt) den Ausbruch der Krankheit begünstigen können.

Aktuell kann das Tourette-Syndrom nicht geheilt werden. Die verfügbaren Therapie haben nach derzeitigen Erkenntnissen keinen positiven Einfluss auf die Ursache oder Prognose der Tic-Störung. Das primäre Ziel der Behandlung ist, die Schwere der Tics zu mildern.

Was ist das Tourette-Syndrom?

Das Tourette-Syndrom ist eine spezielle Form einer Tic-Störung, bei der motorische und vokale Tics kombiniert auftreten.

  • motorische Tics: Es handelt sich um plötzlich einsetzende, mitunter auch heftige Bewegungen, welche unwillkürlich ablaufen und keinen Zweck verfolgen.
  • vokale Tics: Sie zeigen sich durch das unwillkürliche Äußern von Geräuschen, Lauten oder selten auch lautem Schreien. 

Die Diagnose der Erkrankung wird bei unter 18-Jährigen gestellt und die Symptome dauern länger als ein Jahr an. Das Syndrom wurde erstmals von dem französischen Neurologen und Rechtsmediziner Georges Gilles de la Tourette im Jahr 1885 beschrieben.

Vom Tourette-Syndrom abzugrenzen ist eine vorübergehende Tic-Störung. Diese liegt vor, wenn sich Tics bei Kindern oder Jugendlichen mindestens vier Wochen, aber weniger als ein Jahr zeigen. Von einer chronischen Tic-Störung sprechen Fachleute, wenn Betroffene einen bestimmten Tic über einen längeren Zeitraum immer wieder zeigen. Art und Schweregrad können dabei individuell variieren.

Erste Symptome meist im Kindesalter

In den meisten Ländern beträgt die Häufigkeit des Tourette-Syndroms etwa ein Prozent in der Altersgruppe 5 bis 18 Jahre. Jungen sind dabei etwa drei bis vier Mal häufiger betroffen als Mädchen.

Vorübergehende Tics kommen dagegen bei 15 bis 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen vor. Bei mehr als der Hälfte kommt es zu einer Besserung der Tics bis zur Volljährigkeit. 

Für Betroffene können Tics eine Belastung darstellen. Sie können zwar lernen, die Tics hinauszuzögern. Komplett unterdrücken lassen sich die unbeabsichtigten Lautäußerungen oder Bewegungen jedoch nicht. Manche Betroffene ziehen sich sozial zurück und haben Probleme in der Schule oder im Job, was psychische Probleme nach sich ziehen kann

Klassifizierung von Tic-Störungen

In der Hauptsache unterscheiden Fachleute drei verschiedene Arten von Tic-Störungen:

  • vorübergehende Tic-Störung: Es kommt zu vokalen und/oder motorischen Tics über einen Zeitraum von weniger als einem Jahr.

  • dauerhafte Tic-Störung: Von einer chronischen Tic-Störung spricht man, wenn motorische oder vokale Tics (jedoch nicht beides gleichzeitig) länger als ein Jahr vorliegen.

  • Tourette-Syndrom: Betroffene haben vokale und auch motorische Tics länger als zwölf Monate.

Bei betroffenen Kindern kommt es zunächst zu einer vorübergehenden Tic-Störung, aus der sich manchmal die chronische Form oder das Tourette-Syndrom entwickelt.

Tourette-Syndrom: Ursachen

Die genauen Ursachen des Tourette-Syndroms noch nicht vollständig geklärt. Einige Studien legen nahe, dass Störungen im Gehirn eine Rolle spielen. Bei Menschen mit Tic-Störungen scheint das Gehirn nicht dazu in der Lage zu sein, körperliche Bewegungen zu regulieren.

Normalerweise steuern bestimmte Bereiche im Gehirn, wann sich welches Körperteil wie bewegt. Studien zufolge sind diese Hirnregionen bei Menschen mit Tics zu leicht aktivierbar. Außerdem scheint bei den Betroffenen die Kommunikation zwischen den Hirnregionen nicht richtig zu funktionieren. Vermutlich kann ihr Gehirn ungewollte Bewegungen deshalb nicht hemmen.

Erbliche Faktoren und Umwelteinflüsse als Auslöser

Die Ursache von Tic-Störungen wie dem Tourette-Syndrom ist möglicherweise eine Kombination aus erblichen Faktoren und Umwelteinflüssen. Für den Einfluss der Gene spricht, dass häufig mehrere Mitglieder einer Familie Tic-Störungen entwickeln.

Welche Umweltfaktoren die Erkrankung auslösen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Einige Fachleute vermuten, dass folgende Faktoren das Risiko für Tic-Erkrankungen erhöhen können:

  • Rauchen in der Schwangerschaft
  • seelischer Stress in der Schwangerschaft
  • niedriges Geburtsgewicht
  • Frühgeburt
  • Sauerstoffmangel während der Geburt
  • psychosoziale Belastungen (seelische Probleme, die dem sozialen Umfeld entspringen)

Symptome beim Tourette-Syndrom

Beim Tourette-Syndrom liegen verschiedene motorische Tics und mindestens ein vokaler Tic vor, wobei die Symptome länger als ein Jahr andauern. Das konkrete Erscheinungsbild der Krankheit schwankt dabei je nach betroffener Person.

Bei einem Tic handelt es sich um eine unwillkürliche, plötzlich auftretende und immer gleichartig ausgeführte Bewegung oder Lautäußerung. Betroffene können den Tic zwar kurzfristig unterdrücken, jedoch nicht gänztlich verhindern.

Arten von Tics

 motorische Ticsvokale Tics
einfachblinzeln, zwinkern, zuckenräuspern, grunzen, schniefen, hüsteln
komplexhüpfen, Gegenstände berühren.
Sonderformen:
Kopropraxie (obszöne Gesten),
Echopraxie (Bewegungen anderer imitieren)
Wörter oder ganze Sätze sagen,
Sonderformen:
Palilalie (eigene Silben oder Wörter wiederholen),
Echolalie (Silben oder Wörter anderer nachsprechen),
Koprolalie (obszöne Wörter ausrufen)

Einfache motorische Tics treten häufig als Muskelzuckungen im Bereich von Gesicht und Kopf auf: Typisch ist zwinkern, Augenblinzeln, Grimassen ziehen oder Rucken mit dem Kopf oder der Schulter.

Wenn ein motorischer Tic komplex ist, läuft er langsamer ab und ist alltäglichen, scheinbar absichtlichen Bewegungen sehr ähnlich. Beispiele hierfür sind:

  • In-die-Hocke-Gehen
  • Im-Kreis-Drehen
  • Schlagen des eigenen Körpers
  • Zupfen an den Haaren

Wenn mehrere motorische Tics in Kombination mit mindestens einem vokalen Tic über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr auftreten, handelt es sich um das Tourette-Syndrom – die verschiedenen Symptome müssen aber nicht unbedingt gleichzeitig auftreten.

Wann treten Tics bevorzugt auf?

Art, Stärke und Häufigkeit der Symptome können im Verlauf wechseln: Bei starker Konzentration können Tics nachlassen, bei Freude oder Stress zunehmen. Anders als bei anderen Bewegungsstörungen kündigt sich ein Tic häufig durch ein Spannungsgefühl oder auch Vorgefühl an, das erst nachlässt, wenn die Betroffenen dem Anreiz nachgeben.

Manchmal treten die Symptome zum Beispiel im familiären Rahmen häufiger auf als am Arbeitsplatz oder bei ärztlichen Terminen. Im Schlaf laufen Tics eher nur in abgeschwächter Form ab.

Typische Begleitsymptome

Menschen, die das Tourette-Syndrom oder chronische Tics haben, entwickeln mitunter weitere Symptome, die auch als Komorbiditäten bezeichnet werden. Zu den häufigsten Begleitsymptomen gehören 

Zu den seltenen Komorbiditäten zählen tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie Autismus-Spektrums-Störungen. 

Wie erfolgt die Diagnose beim Tourette-Syndrom?

Eine spezielle Untersuchung, mit der sich das Tourette-Syndrom sicherstellen lässt, gibt es nicht. Für die Diagnose erfolgt zunächst eine ausführliche Anamnese, in der die genauen Symptome abgefragt werden.

Um von einem Tourette-Syndrom zu sprechen, müssen folgende Kriterien vorliegen:

  • Beginn im Kindes- oder Jugendalter
  • ein vokaler Tic und mindestens zwei motorische Tics
  • Symptome bestehen länger als zwölf Monate
  • Fluktuationen (Schwankungen) der Tics im Verlauf

Wenn vermutet wird, dass der*die Patient*in zudem von ADHS, Angst- oder Zwangsstörungen oder einer Depression betroffen ist, erfolgen weitere Fragen, die sich speziell zur Diagnose dieser Krankheiten eignen.

Eventuell müssen Kinder über einen längeren Zeitraum beobachtet werden, um das Tourette-Syndrom von anderen Tic-Störungen abzugrenzen.

Bei Verdacht auf eine sekundäre Tic-Störung, die durch andere Erkrankungen verursacht wird, können außerdem bestimmte Untersuchungen nötig sein, etwa eine

  • Blut- und/oder Urinuntersuchung,
  • eine Leberbiopsie sowie
  • eine Augenuntersuchung.

In bestimmten Fällen kommen auch bildgebende Verfahren wir MRT oder CT zum Einsatz.

Wie wird das Tourette-Syndrom behandelt?

Das Tourette-Syndrom ist nicht heilbar. Die Therapie zielt daher darauf ab, die Symptome zu lindern und die Betroffenen dabei zu unterstützen, besser mit ihren Tics umzugehen – etwa mithilfe von

  • Psychoedukation (Aufklärung) und Selbsthilfegruppen,
  • Verhaltenstherapie oder
  • Medikamenten.

Psychoedukation

Häufig hilft es Betroffenen, wenn sie sich das Krankheitsbild ausführlich erläutern lassen. Dies und der Hinweis auf die mögliche Vererbbarkeit von Tics können den Umgang mit der eigenen Tic-Störung erleichtern.

Viele Menschen mit einem Tic wurden vor Beginn der Behandlung über einen langen Zeitraum von anderen ausgegrenzt oder haben negative Reaktionen ihrer Mitmenschen erlebt. Selbsthilfegruppen können Betroffene dabei unterstützen, besser damit umzugehen. Der Austausch mit anderen Menschen mit einem Tic oder dem Tourette-Syndrom zeigt außerdem, dass man mit dem Problem nicht allein ist.

Verhaltenstherapie

Eine Verhaltenstherapie soll Betroffenen Strategien vermitteln, mit denen sich die Symptome besser bewältigen lassen. So kann zum Beispiel durch Wahrnehmungstraining erlernt werden, Anspannung und aufkommende Symptome schneller zu bemerken. Anschließend vermittelt der*die Therapeut*in Techniken, mit denen dem Tic entgegengewirkt werden kann.

Studien haben gezeigt, dass sich die Tics in bestimmten Fällen mithilfe einer Verhaltenstherapie um etwa 30 Prozent reduzieren lässt.

Medikamente

Bei schwer ausgeprägten Tics und hohem Leidensdruck kommt gegebenenfalls eine medikamentöse Therapie infrage. Jedoch können auch Arzneimittel die Tics nur selten vollständig unterdrücken.

In der Behandlung gelten Neuroleptika als Substanzen der 1. Wahl. Sie gehen mitunter aber mit unerwünschten Nebenwirkungen einher, etwa Müdigkeit, Schwindel oder Gewichtszunahme. 

Zum Einsatz kommen etwa:

Dass sich Tics und das Tourette-Syndrom wirksam mit diesen Mitteln behandeln lassen, ist noch nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen. Bisherigen Studien mangelt es an Aussagekraft (methodische Schwächen, geringe Teilnehmerzahlen, etc.). Die Ergebnisse legen jedoch nahe, dass eine medikamentöse Therapie Tics im besten Fall um etwa die Hälfte reduzieren kann. 

Das einzige in Deutschland offiziell zur Behandlung des Tourette-Syndroms zugelassene Medikament ist Haloperidol. Aufgrund der teils schweren Nebenwirkungen verordnen Ärzt*innen es nur selten.

Tiefe Hirnstimulation

Die tiefe Hirnstimulation (THS) zählt zu den neueren Behandlungsmöglichkeiten und kann insbesondere bei schweren Fällen des Tourette-Syndroms eine Option sein, wenn Medikamente oder Psychotherapie nicht ausreichend wirksam sind. Bei der tiefen Hirnstimulation werden feine Elektroden in das Gehirn eingesetzt, welche elektrische Impulse an Nervenzellen senden, die bestimmte Bewegungen beeinflussen.

Eine neuere Metaanalyse verschiedener Studien zeigt, dass im Durchschnitt eine Symptomreduktion von etwa 50 Prozent durch die Hirnstimulation erreicht werden kann. Wie Patient*innen auf die Stimulation ansprechen, variierte in den Untersuchungen erheblich.

Tourette-Syndrom: Verlauf und Prognose

Erste Anzeichen treten beim Tourette-Syndrom häufig etwa ab dem 6. Lebensjahr auf und manifestieren sich gewöhnlich vor dem vollendeten 18. Lebensjahr. Die Tics variieren in Art und Ausmaß, wobei Phasen mit stärkeren und schwächeren Symptomen möglich sind. Häufig kommen zu den Tics psychiatrische Krankheiten hinzu. 

Insgesamt ist die Prognose für das Tourette-Syndrom aber günstig. Der Erkrankungsgipfel ist bei vielen Jugendlichen im Alter von zwölf Jahren erreicht. In den darauffolgenden Jahren nimmt die Ausprägung der Tics bei etwa zwei Dritteln der Betroffenen stark ab. Zudem gibt es einzelne Fälle, in denen eine vollständige Rückbildung der Symptome beobachtet wurde.

Wie häufig sich das Tourette-Syndrom im Erwachsenenalter genau zurückbilden kann, ist aber unklar. Es müssen aber nur wenige Betroffen lebenslang mit den Tics zurechtkommen.

Insbesondere in der Pubertät kann es zu einer Verschlechterung der Symptome kommen. Die Prognose scheint auch davon abhängig zu sein, wie gut es Kindern und Jugendlichen gelingt, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, mit Begleitsymptomen sowie anderen möglichen Erkrankungen wie Hyperaktivität umzugehen. Es ist daher wichtig, dass Betroffene frühzeitig professionelle Unterstützung erhalten.