Muskeldystrophie
Muskeldystrophien zeigen sich oft schon im Kindesalter. Typisches Anzeichen für diese Art der Muskelerkrankung ist eine Muskelschwäche in bestimmten Körperbereichen. Die Erkrankung tritt in mehreren Formen auf, die sich in Verlauf und Prognose unterscheiden. Erfahren Sie, welchen Ursachen eine Muskeldystrophie hat und wie diese verläuft.
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Muskeldystrophie: Ursachen
Dieser Text behandelt hauptsächlich die beiden häufigsten Formen von Muskeldystrophie: die Typen Duchenne und Becker-Kiener.
Der Begriff Muskeldystrophien bezeichnet eine Gruppe erblich bedingter Muskelerkrankungen, bei denen es zu fortschreitendem (progressivem) Muskelschwund und Muskelschwäche kommt.
Durch erbliche Gendefekte liegen bei den Betroffenen bereits bei Geburt für den Muskelstoffwechsel notwendige Eiweiße gar nicht oder nur in unzureichender Form vor. Dieser Eiweißmangel hat früher oder später einen Muskelschwund zur Folge.
Bei den beiden häufigsten Formen von Muskeldystrophie – den Typen Duchenne und Becker-Kiener – hat der Muskelschwund seine Ursachen in einem erblich bedingten Mangel an Dystrophin. Dieses Eiweiß spielt eine wichtige Rolle für die Struktur der Muskelfasern. Fehlt es, bricht die betroffene Muskelzelle zusammen.
Wie wird Muskeldystrophie vererbt?
Alle Formen von Muskeldystrophie können vererbt werden. Bei den beiden Hauptformen von Muskeldystrophie (Typ Duchenne und Typ Becker-Kiener) geben Betroffene den ursächlichen Gendefekt über eine sogenannte X-chromosomal-rezessive Vererbung an ihre Kinder weiter. Was bedeutet das genau?
Gene, also die Träger der Erbanlagen, liegen auf Chromosomen. Das sindfadenförmige Gebilde im Zellkern. Alle Chromosomen liegen paarweise vor – auch die Geschlechtschromosomen X und Y. Männer besitzen dabei jeweils ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom, Frauen zwei X-Chromosomen. Wenn eine Krankheit ihre Ursachen in einem Gendefekt hat, der auf dem X-Chromosom liegt, spricht man von X-chromosomaler Vererbung.
Der Begriff rezessiv bedeutet "nicht in Erscheinung tretend". Das heißt, eine gesunde Genvariante kann die Wirkung des rezessiven Gendefekts unterdrücken. In Bezug auf Muskeldystrophie hat das für Jungen und Mädchen unterschiedliche Folgen:
- Jungen, die ein X-Chromosom mit defektem Gen geerbt haben, entwickeln den Muskelschwund immer (weil sie nur ein X-Chromosom besitzen).
- Mädchen mit einem defekten Gen auf einem X-Chromosom bleiben hingegen normalerweise gesund, weil ihr zweites (gesundes) Gen auf dem anderen X-Chromosom die Wirkung des defekten Gens unterdrückt. Sie können die Veranlagung für Muskeldystrophie jedoch an ihre Nachkommen vererben.
Von der Muskeldystrophie Typ Duchenne oder Becker-Kiener sind deshalb fast ausschließlich Jungen betroffen. Bei Mädchen, zeigt sich die Erkrankung in der Regel selten oder gar nicht.
Muskeldystrophie: Symptome & Verlauf
Bei einer Muskeldystrophie zeigen sich typischerweise Symptome wie eine fortschreitende Muskelschwäche, die überwiegend bestimmte Körperregionen betrifft und meist symmetrisch auftritt. Die beiden wichtigsten Formen sind die Typen Duchenne und Becker-Kiener.
Durch den Muskelschwund treten bei Muskeldystrophie außerdem Symptome wie Fehlstellungen der betroffenen Gelenke sowie Verformungen der Knochen auf (z. B. Fußfehlbildungen oder Skoliose). Betroffenen fällt es im Verlauf der Erkrankung zunehmend schwerer, die durch Muskelschwund beeinträchtigten Körperteile eigenständig zu bewegen.
In welchem Alter der Muskelschwund die ersten Symptome auslöst, welche Körperregionen vom Muskelschwund betroffen sind und ob es zu Anzeichen für eine Beteiligung weiterer Organe kommt, hängt von der Form der Muskelerkrankung ab. Es sind insgesamt über 30 Formen von Muskeldystrophie bekannt, wie unter anderem
- die Muskeldystrophie Duchenne,
- die Muskeldystrophie Becker-Kiener,
- die Gliedergürteldystrophie,
- die myotonische Dystrophie (Curschmann-Steinert-Syndrom) und
- die fazioskapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD).
Auch der Verlauf, also beispielsweise, wie schnell die Muskelerkrankung fortschreitet, hängt von der jeweiligen Form der Erkrankung ab. Manche Formen von Muskeldystrophie verlaufen so langsam und wenig schwer, dass die Lebenserwartung nicht eingeschränkt sein muss. Bei anderen Formen wie bei der Muskeldystrophie Duchenne ist die Prognose jedoch nicht so günstig. Sie zeigt einen rasch fortschreitenden Verlauf und endet meist im jungen Erwachsenenalter tödlich.
Tabelle: Formen von Muskeldystrophie (Beispiele)
Muskeldystrophie | Vererbung | hauptsächlich betroffene Muskeln | Auftreten erster Symptome |
Typ Duchenne | X-chromosomal-rezessiv | Becken, Oberschenkel, Herz | 1.-6. Lebensjahr |
Typ Becker-Kiener | X-chromosomal-rezessiv | Becken, Oberschenkel, später Schultergürtel | 5.-15. Lebensjahr |
Gliedergürtel-Formen | autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv | Schulter, Beckengürtel | Kindes- u. Erwachsenenalter |
Typ Curschmann-Steinert | autosomal-dominant | Gesicht, Hände, Unterarme und -schenkel | junges Erwachsenenalter |
Muskeldystrophie Duchenne
Die Muskeldystrophie Duchenne ist die häufigste erbliche Muskelerkrankung im Kindesalter. Sie tritt bei männlichen Neugeborenen mit einer Häufigkeit von 1:3.500 auf. Aufgrund der rasch fortschreitenden Muskelschwäche gilt die Muskeldystrophie Duchenne als bösartige (maligne) Muskeldystrophie. In etwa 3 bis 5 von 10 Fällen wirkt sich die Erkrankung auch auf die geistige Entwicklung der Kinder aus und kann die Intelligenz mindern.
Die ersten Anzeichen für Muskelschwund zeigen sich bei der Muskeldystrophie Duchenne bereits zwischen dem 1. und 6. Lebensjahr. Etwa zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr macht sich eine leichte Muskelschwäche der Beine bemerkbar. Als Folge stolpern und fallen sie häufig.
Der Schwund von Becken- und Oberschenkelmuskulatur schreitet im weiteren Verlauf stetig fort, wobei Fett- und Bindegewebe das zugrunde gehende Muskelgewebe ersetzen. In der Folge bilden sich bei den Kindern typischerweise sogenannte Gnomenwaden (auch Kugelwaden genannt). Bei etwa einem Drittel der Fälle kommt es zu Wadenschmerzen, die später jedoch in den Hintergrund treten.
Im weiteren Verlauf können Kinder mit Muskeldystrophie nur unter Zuhilfenahme eines Geländers Treppen steigen. Durch die Muskelschwäche in Becken und Oberschenkeln sinkt das Becken beim Laufen ab und es entsteht ein watschelnder Gang. Das Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen fällt schwer. Die Kinder stützen sich deshalb an Wänden und Möbeln ab.
Nachfolgend ist auch die Muskulatur der Schulter und Arme vom Muskelschwund betroffen. Ein typisches Anzeichen für die schwindende Muskulatur im Schulterbereich sind flügelartig abstehende Schulterblätter, die sogenannten Scapulae alatae.
Bereits ab dem 5. bis 7. Lebensjahr benötigen Kinder meist Hilfe, um aus dem Sitzen oder Liegen aufzustehen. Im Alter von 12 Jahren können Kinder mit Muskeldystrophie Duchenne ihre Arme oft nicht mehr in die Horizontale anheben.
Einen Rollstuhl benötigen viele Betroffene bereits ab dem 8. bis 15. Lebensjahr, können sich aber noch eingeschränkt selbstständig versorgen. Meist sind sie durch den Muskelschwund im Alter von etwa 18 Jahren auf vollständige Pflege angewiesen.
Letztlich wirkt sich der Muskelschwund auch auf Atemmuskulatur und Herzmuskel aus, was die Lebenserwartung verringert. Die zunehmend eingeschränkte Atemfunktion und Herzleistung kann sich durch Symptome wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsschwäche und Herzbeschwerden äußern.
Im fortgeschrittenen Verlauf führt diese Form von Muskelschwund fast immer zum Tod durch Herzversagen oder Ersticken. Meist ist dies im Alter von 18 bis 25 Jahren der Fall.
Muskeldystrophie Becker-Kiener
Die Muskeldystrophie Becker-Kiener kommt mit einer Häufigkeit von etwa 1:20.000 bis 1:30.000 wesentlich seltener vor. Da die Symptome erst später einsetzen und langsamer fortschreiten, gilt sie als gutartige (benigne) Form der Muskeldystrophie. Die ersten Anzeichen zeigen sich meist im Schulalter, etwa zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr, zum Teil aber auch später.
Zunächst betrifft die Muskeldystrophie Becker-Kiener ebenfalls vor allem die Becken- und Oberschenkelmuskeln. Betroffene haben beispielsweise Probleme beim schnellen Laufen oder Schwierigkeiten beim Treppensteigen. Auch das Aufstehen aus einem Stuhl kann erschwert sein. Später breitet sich die Muskeldystrophie weiter auf Arme und Schultergürtel aus.
Der Muskelschwund in den Becken- und Oberschenkelmuskeln entwickelt sich jedoch insgesamt eher langsam. Dadurch bleibt die Gehfähigkeit häufig bis ins mittlere Erwachsenenalter erhalten. Gelegentlich können Menschen mit dieser Form von Muskelschwund auch im Alter von 60 Jahren noch gehen.
Im Vergleich zu ansonsten Gesunden ist die Lebenserwartung bei Menschen mit Muskeldystrophie Becker-Kiener normalerweise kaum verringert.
Geht die Muskeldystrophie auf Herzmuskel und Atemmuskulatur über, kann die Erkrankung auch bei dieser Form der Erkrankung einen tödlichen Verlauf nehmen.
Muskeldystrophie: Diagnose
Bei einem Verdacht auf Muskeldystrophie kommen zur Diagnose verschiedene Untersuchungsmethoden zum Einsatz. Die erste Verdachtsdiagnose ergibt sich, wenn im Kindesalter eine ungewöhnliche Muskelschwäche besteht. Bei einer körperlichen Untersuchung fallen unter anderem verminderte Reflexe auf. Daneben können andere körperliche Anzeichen wie Kugelwaden oder Wirbelsäulenveränderungen (z. B. eine Skoliose) Hinweise auf die Erkrankung geben.
Blutuntersuchungen
Bei einer Muskeldystrophie ist die Anzahl einiger Enzyme im Blut häufig bereits erhöht, noch ehe die ersten Anzeichen von Muskelschwäche auftreten. Dazu zählen die Enzyme Kreatinkinase (CK) und Laktatdehydrogenase (LDH).
Beide Enzyme finden sich in unterschiedlichen Formen in den Zellen der Skelettmuskulatur und im Herzmuskel. Wenn eine Muskeldystrophie diese Muskelzellen zerstört, kommt es zu einer Freisetzung der Enzyme. Entsprechende Laboruntersuchungen können diese im Blut nachweisen.
Oft ist auf diese Weise die erste Diagnose direkt nach der Geburt möglich. Bei der Muskeldystrophie Duchenne ergibt eine Blutuntersuchung bereits im Nabelschnurblut stark erhöhte Kreatinkinase-Werte.
Urinuntersuchungen
Bei einer Urinuntersuchung zeigt sich im Falle einer Muskeldystrophie typischerweise ein verminderter Kreatinin-Wert.
Elektromyogramm & Elektrokardiogramm
Auch ein Elektromyogramm (EMG) oder ein Elektrokardiogramm (EKG) können Hinweise auf eine Muskeldystrophie geben. Denn sie zeichnen die Aktionsströme der Skelettmuskulatur beziehungsweise der Herzmuskulatur auf. Als Aktionsströme bezeichnet man schnelle elektrische Spannungsschwankungen, die durch einen veränderten Erregungszustand einer Zelle (z. B. durch einen Nervenreiz oder einen elektrischen Reiz) entstehen.
EMG und EKG zeichnen diese Spannungsschwankungen als Kurvenbild auf und zeigen je nach Krankheitsbild typische Veränderungen. Bei Menschen mit Muskeldystrophie sind unter anderem Dauer und Stärke der einzelnen Muskelerregungen deutlich vermindert.
Muskelbiopsie
Bei einer Muskelbiopsie entnimmt der Arzt eine Gewebeprobe (Biopsie) aus einem von Muskelschwäche betroffenen Muskel. Anhand einer feingeweblichen Untersuchung dieser Gewebeprobe zeigt sich, ob eine Dystrophie einzelne Muskelfasern zerstört hat und ob Fett- oder Bindegewebe Muskelgewebe ersetzt haben.
Bildgebende Verfahren
Eine Untersuchung mit Ultraschall (Sonographie) sowie eine Magnetresonanztomographie (MRT) ermöglichen es, das Muskelgewebe zu beurteilen. So lassen sich Muskelerkrankungen wie eine Muskeldystrophie erkennen und deren Ausmaß feststellen.
Gentest
Sofern der zugrundeliegende Gendefekt bekannt ist, lässt sich die Form der Muskeldystrophie mit einem Gentest feststellen. Dazu sind Proben der Mundschleimhaut oder Blutproben nötig. Die Aussagekraft einer Muskelbiopsie kann ein Gentest jedoch meist nicht ersetzen.
Muskeldystrophie: Therapie
Eine Muskeldystrophie ist bislang nicht heilbar. Die Therapie zielt daher vor allem darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität so lange wie möglich zu erhalten.
Insbesondere Krankengymnastik beziehungsweise Physiotherapie trägt dazu bei, die Bewegungsfähigkeit so lange wie möglich zu erhalten.
Entzündungshemmende Medikamente aus der Gruppe der Glukokortikoide können unter Umständen eine Zeit lang die Kraft verbessern. Sicher belegt ist das jedoch nicht.
Teilweise schreitet eine Muskeldystrophie so rasch fort, dass durch die verkürzten Muskeln frühzeitig mit Fehlstellungen der betroffenen Gelenke und verformten Knochen zu rechnen ist (wie z. B. Fußfehlbildungen, Bewegungseinschränkungen der großen Gelenke). Dann können orthopädische Maßnahmen wie Orthesen oder ein Korsett infrage kommen. Daneben können Operationen helfen, den Verlust der Gehfähigkeit hinauszuzögern. Eine zunehmende Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) lässt sich möglicherweise ebenfalls durch eine Operation korrigieren.
Hilfsmittel wie ein Rollstuhl können zudem zu Eigenständigkeit verhelfen und den Alltag erleichtern. Daneben haben sich vielerorts Selbsthilfegruppen gebildet, in denen sich Betroffene und Angehörige austauschen können.