Folie à deux: Wahnsinnig ansteckend
Menschen, die unter Wahnvorstellungen leiden, sind von Dingen überzeugt, die nicht der Realität entsprechen. Für Außenstehende sind solche Wahnideen in der Regel kaum nachvollziehbar. Doch es gibt auch das Phänomen, dass sich Familienmitglieder oder Partner*innen vom Wahn anstecken lassen – die sogenannte Folie à deux.
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
FAQ: Häufige Fragen
Folie à deux ist eine sogenannte induzierte wahnhafte Störung, die nur sehr selten auftritt: Zwei Menschen (mitunter auch mehr) entwickeln eine gemeinsame Psychose, wobei nur eine der Personen tatsächlich erkrankt ist und die andere Person dominiert und mitreißt.
In einigen bekannt gewordenen Fällen endete der "Wahnsinn zu zweit" tödlich. Ein besonders tragisches Beispiel ist das eines französischen Au-pair-Mädchens namens Sophie Lionnet. Die junge Frau wurde zum Mordopfer eines Paares, bei dem eine Folie à deux festgestellt wurde. Auch der Fall zweier schwedischer Zwillingsschwestern ist bekannt: Die Schwestern liefen in einem gemeinsamen Wahn auf die Straße und wurden von einem Auto erfasst.
Folie à deux tritt nur sehr selten auf. Epidemiologischen Daten zufolge sind weitaus weniger als ein Prozent der Bevölkerung betroffen. Fachleute gehen jedoch von einer höheren Dunkelziffer aus.
Folie à deux: Was ist das?
Der Begriff "Folie à deux" stammt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie "Wahnsinn zu zweit". Dabei "teilen" sich zwei meist sehr nahestehende Personen eine Wahnvorstellung (Psychose). Zum Beispiel sind beide überzeugt davon, vom Geheimdienst abgehört und verfolgt zu werden oder aber sie sind der Meinung, eine göttliche Mission erfüllen zu müssen.
Die Folie à deux wird auch als induzierte wahnhafte Störung ( lat. inducere = hineinführen), als symbiontischer Wahn oder (veraltet) als "Geistesstörung zu zweit" bezeichnet. Dabei werden folgende Rollen unterschieden:
- Die Person, die den Wahn auslöst (etwa jemand, der*die an einer Psychose wie der Schizophrenie leidet), ist dabei die induzierende Person.
- Die Person, die den Wahn übernimmt, bezeichnet man auch als induzierte Person.
Bei einer Folie à deux übernimmt also ein eigentlich gesunder Mensch die Wahnvorstellungen eines Menschen mit einer psychotischen Störung. Wirklich krank ist also nur eine der beiden Personen. Die zweite Person wird jedoch in das Wahnkonstrukt hineingezogen: Sie übernimmt kritiklos die wahnhaften Gedanken des Gegenübers und zeigt somit ebenfalls Symptome einer Psychose. Beide Personen bestärken sich gegenseitig in ihrem Wahn. Wird das Paar voneinander getrennt, verschwinden die Wahnstörung der gesunden Person häufig wieder, während der*die Erkrankte im Wahn weiterlebt.
Typische Konstellationen
Meist entwickelt sich der gemeinsame Wahn zwischen Personen, die eine enge Bindung untereinander haben – etwa zwischen
- Blutsverwandten (z. B. Geschwistern oder Mutter und Kind),
- Partner*innen und Ehepaaren,
- Freund*innen oder
- Mitgliedern bestimmter Gesinnungs- und Glaubensgemeinschaften.
Es kann auch vorkommen, dass ein gemeinsamer Wahn mehr als zwei Leute umfasst. Dies ist allerdings extrem selten der Fall. Bei einem Wahn zwischen drei Personen sprechen Fachleute von einer Folie à trois. Ist beispielsweise eine ganze Familie betroffen, handelt es sich um eine Folie à famille.
Wer ist betroffen?
Frauen erkranken häufiger an einer Folie à deux als Männer – vor allem als passive Partnerinnen. Die psychotische Störung kann in jedem Alter auftreten. Häufig sind Menschen betroffen, die sozial isoliert sind, etwa aufgrund von Sprachbarrieren, fehlender Ortskundigkeit, Arbeitslosigkeit, einer Erkrankung oder Behinderung.
Wie zeigt sich eine Folie à deux?
Bei einer Folie à deux leidet die aktive Person an einer Psychose. Eine Psychose ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern ein Sammelbegriff für unterschiedliche psychische Störungen, die mit einem Bezugsverlust zur Realität und zum eigenen Selbst einhergehen. Dadurch kommt es unter anderem zu Beeinträchtigungen der Wahrnehmung und der Motorik und somit zu einem hohen Leidensdruck. Unbehandelt verläuft eine Psychose in der Regel chronisch.
Eine Psychose kann sich durch eine vielfältige Wahnsymptomatik äußern. Möglich sind etwa:
- Halluzinationen (Sinnestäuschungen, etwa Stimmen hören oder Trugbilder)
- Wahnvorstellungen (Verfolgungswahn oder Verschwörungsgedanken)
- schwere Denkstörungen (wirre Gedanken, Gedankenkreisen, veränderte Geschwindigkeit des Denkens, nicht zu Ende gedachte Gedanken)
- starke Ängste
Die induzierende Person zeichnet sich häufig durch folgende Eigenschaften aus:
- schizoide Züge (zurückgezogen, kühl, wenig emotional und empathisch, beharrlich, mitunter impulsiv und leicht reizbar)
- dominant in sozialen Beziehungen, insbesondere der induzierten Person gegenüber
- aktiv, ausdauernd, hartnäckig
- im Inneren oft sensibel, unsicher und verletzlich
Charakteristisch für die induzierte Person können folgende Merkmale sein:
- Passivität und Unterwürfigkeit
- Nachgiebigkeit und Sprunghaftigkeit
- Ängstlichkeit
- mentale und körperliche Erschöpfung
- Unterlegenheit gegenüber der induzierenden Person (etwa in Bezug auf Intelligenz und Macht)
- Drogenmissbrauch
Wie kommt es zu einer Folie à deux?
Damit eine Folie à deux entsteht, muss eine der beiden betroffenen Personen – der induzierende, aktive Part – eine Psychose entwickeln. Fachleute sind sich einig, dass eine Psychose entweder
- organisch oder
- nicht-organisch
bedingt sein kann. Eine organisch, also körperlich bedingte Psychose entsteht etwa durch körperliche Erkrankungen wie einer Stoffwechselstörung, Parkinson oder Gehirntumoren. Auch die Einnahme von Drogen (Alkohol, Cannabinoide, Amphetamine) kann zur Entstehung einer Psychose beitragen. Bestimmte Medikamente verstärken die Symptome einer Psychose unter Umständen, etwa das starke Schmerzmittel Morphin oder das Anästhetikum Ketamin.
Bei einer nicht-organischen Psychose sind die Auslöser körperlich nicht identifizierbar. Fachleute gehen davon aus, dass es eine erbliche Veranlagung für die psychische Störung geben könnte. Für die Entstehung einer Folie à deux wird diskutiert, ob eine genetische Vorbelastung beider Parteien – also auch der passiven Person – ein Risikofaktor sein kann.
Weitere Faktoren, die vermutlich dazu führen können, dass eine (psychisch nicht erkrankte) Person die wahnhaften Vorstellungen der aktiven Person übernimmt:
- Nachahmung, etwa durch Lernprozesse (insbesondere bei Eltern-Kind-Beziehungen)
- Sympathie
- Unterwürfigkeit und Abhängigkeit innerhalb einer Partnerschaft
- Angst vor Verlust oder Zurückweisung
- Einsamkeit
Die passive Person steht also vor einer Entscheidung:
- Sie kann sich von der psychisch erkrankten Person lösen und ihre wahnhaften Ideen ablehnen, dadurch allerdings die Beziehung riskieren.
- Oder sie kann die psychotischen Gedanken mit der Zeit übernehmen, eine "Wir-Identität" aufbauen und so die Beziehung vermeintlich stärken.
Da sich die induzierte Person in der Regel durch eine unsichere Persönlichkeitsstruktur auszeichnet, wird sie häufig durch Ängste geleitet und schafft es nicht, sich zu lösen. Der*die induzierende Partner*in versucht zudem aktiv, die induzierte Person von der Außenwelt abzuschotten und sämtliche noch vorhandene Sozialkontakte zu reduzieren.
Wie wird eine Folie à deux behandelt?
Bislang gibt es kein allgemeingültiges Behandlungskonzept für die Folie à deux, da die induzierte wahnhafte Störung sehr selten auftritt oder aber nur in wenigen Fällen diagnostiziert wird. Dazu kommt, dass induzierende Personen oft davon überzeugt sind, gar nicht krank zu sein, weshalb sie eine Behandlung verweigern. Induzierte Personen hingegen fehlt es oft an Antriebskraft, sich selbstständig Hilfe zu suchen.
Grundsätzlich gilt: Je eher Diagnose und Therapie erfolgen, desto besser sind die Heilungsaussichten. Für die induzierte Person stehen die Chancen auf Genesung deutlich besser.
Für die Therapie der induzierenden Person gelten ähnliche Ansätze wie bei einer klassischen Psychose. In der Regel kommt eine Kombination aus psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung zum Einsatz. In vielen Fällen erfolgt die Therapie stationär.
Zur medikamentösen Therapie bieten sich Arzneimittel aus der Gruppe der Antipsychotika (Neuroleptika) an, darunter etwa Benzodiazepine. Auch Antidepressiva können Wirkung zeigen. Die medikamentöse Behandlung muss in der Regel über einen langen Zeitraum von mehreren Jahren erfolgen, um Rückfälle zu vermeiden. Zusätzlich sollten Betroffene keinen Zugriff auf Substanzen haben, die psychotische Episoden womöglich verstärken.
Muss die induzierte Person ebenfalls behandelt werden?
Zwar ist die induzierte Person in der Regel nicht psychisch erkrankt. Mit der Zeit nimmt sie das Wahnsystem des aktiven Parts jedoch an, sodass eine bloße räumliche Trennung nicht immer ausreicht und weitere Maßnahmen notwendig sind. So sollte der*die induzierte Betroffene in einer anderen Klinik behandelt werden als der*die Partner*in. Auch hier bietet sich eine Psychotherapie an, in einigen Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein. Ein wichtiger Baustein ist, die Person bei ihrer Integration in die Gesellschaft zu unterstützen. Durch die Isolation, zu der es im Rahmen der Folie à deux kommt, ist es für Betroffene oft schwer, im Anschluss sowohl sozial als auch beruflich wieder Fuß zu fassen.