Dissoziative Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung)
Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung sind schwer traumatisiert. Ihre Psyche ist so verletzt, dass sich ihre Persönlichkeit in mehrere Teilidentitäten aufspaltet. Die einzelnen Identitäten wechseln sich ab und wissen in der Regel nichts voneinander. Erfahren Sie mehr über die Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung.
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
FAQ: Häufig gestellte Fragen zur dissoziativen Identitätsstörung
Schizophrenie wird umgangssprachlich oft als "gespaltene Persönlichkeit" bezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch irreführend, denn mit einer Persönlichkeitsspaltung oder mehreren Identitäten hat die Erkrankung nichts zu tun. Vielmehr geht eine Schizophrenie mit einem Bezugsverlust zur Realität einher. Die Störung kann jedoch verschieden ausgeprägt sein, sodass es kein typisches Krankheitsbild gibt.
Der häufigste Auslöser sind traumatische Erfahrungen in der Kindheit. Untersuchungen zeigen: Ein Großteil der Betroffenen hat als Kind psychische oder körperliche Gewalt und/oder Missbrauch erfahren.
Eine Dissoziation ist ein Schutzmechanismus. Dieser greift, wenn bestimmte traumatische Ereignisse von einer einzigen Person nicht bewältigt werden können: Die betroffene Person spaltet Identitäten ab, es kommt zu einem Persönlichkeitswechsel. Dabei geschieht eine Art „Arbeitsteilung“: Jede Identität in dem erschaffenen Persönlichkeitssystem übernimmt eine bestimmte Funktion, um einen Umgang mit dem Erlebten zu finden.
HINWEIS FÜR BETROFFENE: Dieser Text enthält Passagen, die möglicherweise als Auslösereize wirken könnten.
Was ist eine dissoziative Identitätsstörung?
Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist eine psychische Störung, die früher auch als multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) bezeichnet wurde. Sie wird den dissoziativen Störungen zugeordnet, die neben der dissoziativen Identitätsstörung noch weitere Krankheiten umfasst. Diese können ebenfalls Teil des Störungsbilds einer DIS sein:
- dissoziative Amnesie (Unfähigkeit, sich an vergangene, meist belastende Ereignisse zu erinnern)
- dissoziative Fugue (ungeplante und unbewusste Entfernung aus der gewohnten Umgebung)
- Trance und Besessenheitszustände
- dissoziative Bewegungsstörungen (Koordinationsstörungen oder Verlust der Bewegungsfähigkeit)
- dissoziative Krampfanfälle (plötzlich krampfartige Bewegungen, ähnlich wie bei einem epileptischen Anfall)
- Ganser-Syndrom (unstimmige oder falsche Antworten auf einfache Fragen)
- Depersonalisationsstörung (Depersonalisation und Derealisationssyndrom)
Charakteristisch für eine DIS ist, dass eine Person zwei oder mehr unterscheidbare Persönlichkeitsidentitäten oder -zustände entwickelt.
Diese Abspaltung einzelner psychischer Funktionen nennen Fachleute Dissoziation. Jede der einzelnen Identitäten verfügt über eigene
- Charaktereigenschaften,
- Vorlieben,
- Verhaltensweisen und
- Erinnerungen.
Die verschiedenen Persönlichkeiten sind dabei nie gleichzeitig vorhanden, sondern immer zu verschiedenen Zeitpunkten. Die einzelnen Teilidentitäten denken, fühlen und agieren unabhängig voneinander. Sie unterscheiden sich beispielsweise auch in Namen, Stimme, Gestik und Mimik.
Zwar gibt es inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur dissoziativen Identitätsstörung. Einige Psycholog*innen zweifeln jedoch an, dass es die psychische Erkrankung tatsächlich gibt. Andere sehen sie nicht als eigenständige Störung an, sondern verstehen sie eher als Ausprägung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Prävalenz: Wie häufig ist die dissoziative Identitätsstörung?
Laut des internationalen Klassifikationssystems ICD-10 gilt die dissoziative Identitätsstörung als seltene Erkrankung. In Deutschland sind Studien zufolge jedoch 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung betroffen. Fachleute gehen zudem von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Dissoziative Identitätsstörung: Symptome
Die dissoziative Identitätsstörung kann vielfältige Symptome verursachen. Charakteristisch ist, dass zwei oder mehr voneinander unterscheidbare Teilidentitäten oder Persönlichkeitszustände in einer Person existieren. Untersuchungen zufolge sind durchschnittlich acht bis zehn Identitäten vorhanden. Im Extremfall können jedoch bis zu 100 Teilidentitäten in einer Person vereint sein. Persönlichkeitswechsel treten besonders häufig auf, wenn die betroffene Person unter extremem Stress steht.
Grundsätzlich entscheiden Psycholog*innen zwischen zwei Identitätsformen:
- Host: In der Regel gibt es eine Identität, die den Großteil des normalen Alltags bestreitet. Diese werden als Host bezeichnet (englisch: Gastgeber).
- Alters: Alle weiteren Teilpersönlichkeiten werden Alters genannt (abgeleitet vom englischen alternate, sinngemäß: anders, verändert).
Diese Identitätsformen können sich auf zwei Arten bemerkbar machen:
- Besitzform (Besessenheit, possessive Form): Die verschiedenen Identitäten präsentieren sich nach außen hin so offensichtlich, dass Außenstehende den Persönlichkeitswechsel in der Regel bemerken.
- Nicht-Besitz-Form (Nichterfüllung, nonpossessive Form): Die Identitätswechsel sind für Außenstehende weniger offensichtlich. Betroffene beschreiben ein Gefühl der Depersonalisation: Sie erleben sich selbst losgelöst von der eigenen Person, so als wären sie Beobachtende ihres eigenen Lebens.
Die Charaktereigenschaften der sogenannten Alters stehen häufig im Gegensatz zum Host. Die verschiedenen Identitäten kooperieren untereinander, jedoch in unterschiedlich starker Ausprägung. Sie haben etwa Zugriff auf die Erinnerungen und Handlungen der anderen Persönlichkeitsanteile und können ihre Wechsel koordinieren.
Typisch für eine multiple Persönlichkeitsstörung: Amnesie
Betroffene haben oft schwerwiegende Erinnerungslücken und können sich an wichtige persönliche Informationen nicht erinnern. Der Grund: Der Host ist sich der anderen Persönlichkeitszustände in vielen Fällen gar nicht oder nur teilweise bewusst, sodass er sich auch nicht an deren Handlungen erinnert. Menschen mit einer multiplen Persönlichkeit wissen daher manchmal nicht, wie sie an den Ort gekommen sind, an dem sie sich befinden, wer die Person ist, die sie soeben gegrüßt hat oder wer die Einkaufsliste auf dem Tisch geschrieben hat.
Weitere Symptome, die bei Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung häufig auftreten, sind unter anderem:
- Erinnerungsbilder von traumatischen Erfahrungen (sog. Flashbacks), deren Auslöser oft scheinbar neutrale Reize sind
- Ängste und Panikattacken
- selbstverletzendes Verhalten
- Suizidversuche
- Aggressionen
- Kopfschmerzen
- Missbrauch von Alkohol oder Drogen
- zwanghaftes Verhalten
- Wahrnehmung von Stimmen (der anderen Teilpersönlichkeiten)
Dissoziative Identitätsstörung: Komorbide Störungen
Zudem geht die dissoziative Identitätsstörung häufig mit weiteren psychischen Erkrankungen einher. Typische Komorbiditäten sind etwa:
- Depressionen und depressive Verstimmungen
- Persönlichkeitsstörungen wie eine Borderline-Störung oder schizoide Persönlichkeitsstörung
- somatoforme Störungen wie Essstörungen
- Angststörungen
Dissoziative Identitätsstörung: Ursachen
In der Regel entsteht eine dissoziative Identitätsstörung durch eine Traumatisierung in der frühen Kindheit, insbesondere durch
- massive körperliche Gewalt,
- sexuellen Missbrauch und/oder
- extreme Vernachlässigung bis hin zur Verwahrlosung.
Meist handelt es sich um Traumata, die vor dem fünften Lebensjahr entstanden sind.
Seltener lösen andere Traumata eine dissoziative Identitätsstörung aus: Infrage kommen zum Beispiel belastende Lebenssituationen wie extreme Armut oder Krieg, in denen die Kinder den Verlust von Angehörigen miterleben mussten. Auch kann es sein, dass Betroffene zwar traumatisiert sind, sich aber nicht mehr an die traumatischen Erlebnisse erinnern können.
In einer schwer traumatischen Situation trennen die Kinder als Schutzreaktion das reale Geschehen vom Bewusstsein ab und schaffen so einen gedanklichen Rückzug aus der unerträglichen Situation. Eine multiple Persönlichkeitsstörung entsteht, wenn sich die Betroffenen dabei in zwei oder mehr Identitäten aufspalten, wobei jede Identität bestimmte Funktionen in den jeweiligen Situationen übernimmt und in einer ähnlichen Situation wieder zum Vorschein kommen kann.
Die Teilidentitäten erfüllen verschiedene Aufgaben:
- So entstehen zum Beispiel Helferpersönlichkeiten, welche eine beschützende Rolle für die Betroffenen übernehmen. So meiden diese etwa Situationen, in denen ein Missbrauch stattfinden könnte.
- Andere Teilpersönlichkeiten sorgen beispielsweise dafür, dass die Betroffenen mit den Anforderungen in der Schule oder am Arbeitsplatz zurechtkommen.
Wann wird Dissoziation zur Störung?
Der Vorgang der Dissoziation dient als Bewältigungsmechanismus in belastenden, stressigen oder traumatischen Situationen. Er läuft unbewusst ab und lässt sich nicht steuern. Einige Hirnregionen arbeiten dann nicht weiter, sodass die Informationsweiterleitung im Gehirn teilweise blockiert ist.
Zur psychischen Störung wird dieser Schutzmechanismus dann, wenn die Teilidentitäten weiter bestehen, obwohl sich die Person nicht mehr in einer traumatischen Situation befindet – oder wenn schon geringe Alltagsbelastungen ausreichen, um Dissoziationen auszulösen.
Die Fähigkeit zur Dissoziation ist also die Grundvoraussetzung dafür, dass sich Teilidentitäten abspalten und somit eine dissoziative Identitätsstörung entstehen kann. Doch nicht jeder Mensch kann dissoziieren. Gerade bei Kindern ist die Fähigkeit zur Dissoziation aber in der Regel gut ausgeprägt.
Dissoziative Identitätsstörung: Diagnose
Oft vergehen viele Jahre, bis die dissoziative Identitätsstörung als solche diagnostiziert wird. Dies kann verschiedene Gründe haben. Oft scheut sich eine multiple Persönlichkeit zum Beispiel, von ihren Gedächtnislücken und merkwürdigen Begebenheiten – zum Beispiel von unbekannten Kleidern im Schrank – zu erzählen, obwohl dies ein essenzieller Hinweis für auf eine dissoziative Identitätsstörung sein kann.
Wichtig ist, dass andere Erkrankungen oder Erscheinungsbilder ausgeschlossen werden, die mit einer ähnlichen Symptomatik einhergehen – etwa mit Bewusstseinstrübungen oder Gedächtnisverlust. Dazu zählen zum Beispiel:
- Schizophrenie
- epileptische Anfälle oder
- die Einnahme bestimmter Substanzen wie z. B. Alkohol oder Medikamente
Um die dissoziative Identitätsstörung zu erfassen, können ein Fragebogen zu dissoziativen Symptomen und ein Interviewleitfaden hilfreich sein. Die Diagnose wird nach folgenden Kriterien gestellt:
- Vorliegen von zwei oder mehr Persönlichkeitszuständen, die sich in ihrem Selbstbewusstsein, Handeln und ihrer Gefühlswelt deutlich voneinander abgrenzen
- Gedächtnislücken sowohl bei alltäglichen Situationen als auch persönlichen Informationen und traumatischen Erlebnissen
- Die Symptomatik geht mit einem hohen Leidensdruck einher und/oder beeinträchtigen die betroffene Person in ihrer sozialen und beruflichen Funktion
Dissoziative Identitätsstörung: Therapie
Eine dissoziative Identitätsstörung muss oft über Jahre hinweg behandelt werden. Es gibt kaum wissenschaftliche Daten darüber, welche Therapieformen am besten zur Behandlung einer dissoziativen Identitätsstörung geeignet sind. Gängig ist vor allem eine Langzeit-Psychotherapie. Bei einigen Patient*innen hilft zudem eine kognitive Verhaltenstherapie.
Je nach Ausprägung des Leidensdrucks kann ein stationärer Aufenthalt sinnvoll sein – insbesondere, wenn neben der DIS noch weitere psychische Erkrankungen wie eine Depression und/oder Suizidalität vorliegen.
Eye Movement Desensitization Reprocessing (EMDR)
Auch Techniken wie das Eye Movement Desensitization Reprocessing (EMDR) können geeignet sein, um eine dissoziative Identitätsstörung zu behandeln. Dabei werden Betroffene angeleitet, von dem traumatischen Erlebnis zu berichten und dabei schnelle Augenbewegungen auszuführen. Die Kombination von Augenbewegung und Konfrontation mit dem Trauma erleichtert es, das Erlebte zu verarbeiten: Die Augenbewegung regt das Gehirn so an, dass sich die Blockaden lösen können.
Medikamentöse Behandlung
In Einzelfällen können bei einer dissoziativen Identitätsstörung vorübergehend Medikamente (Antidepressiva und Beruhigungsmittel) zum Einsatz kommen. Allerdings werden dadurch lediglich die Symptome gelindert – die Ursachen für die multiple Persönlichkeitsstörung bleiben durch die medikamentöse Behandlung unangetastet.
Die Suche nach einem Therapieplatz gestaltet sich häufig schwierig. Zum einen haben viele multiple Persönlichkeiten schon schlechte Erfahrungen mit Behandlungen aufgrund falscher Diagnosen gemacht. Zum anderen fällt es Menschen, die eine multiple Persönlichkeitsstörung haben, oft schwer, Vertrauen zu fassen. Dies ist aber notwendig, um sich auf die Therapie einlassen zu können. Es kann hilfreich sein, sich an spezielle Traumatherapeut*innen zu wenden.
Dissoziative Identitätsstörung: Verlauf und Prognose
Die dissoziative Identitätsstörung entwickelt sich in der Regel in früher Kindheit, bleibt aber oft bis ins Erwachsenenalter unentdeckt.
Die Intensität der Störung kann im Verlauf variieren. Zum Beispiel können die Symptome nur phasenweise auftreten oder aber ständig vorhanden sein. Belastungen und traumatische Erfahrungen verstärken die Störung typischerweise. Durch die psychische Belastung ist das Suizidrisiko deutlich erhöht.
Mithilfe einer geeigneten Therapie kann sich die Prognose deutlich bessern. Wird die dissoziative Identitätsstörung nicht behandelt, bleibt sie meist dauerhaft bestehen, wobei die Symptome mit steigendem Lebensalter jedoch häufig abnehmen. Wie die Störung verläuft, ist auch vom Ausmaß der ursächlichen Traumatisierung abhängig.