Hochfunktionale Depression: Oberflächlich leistungsfähig, innerlich leer
Erschöpfung, sozialer Rückzug und die Unfähigkeit, kleinste Aufgaben zu erledigen: So stellen sich viele Menschen eine Depression vor. Betroffene der hochfunktionalen Depression hingegen "funktionieren" im Alltag normal weiter. Innerlich überwiegen jedoch Verzweiflung und Leere. Warum ist diese Erkrankungsform besonders gefährlich?
FAQ: Hochfunktionale Depression – Häufig gestellte Fragen
Betroffene leiden unter depressiven Gefühlen wie Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifeln. Auch körperliche Symptome wie Erschöpfung und Schlafprobleme sind typisch. Zeitgleich besteht ein starker Druck, die Erkrankung geheim zu halten, im Beruf leistungsfähig zu sein und im Alltag sowie im sozialen Kontext (etwa im Freundeskreis und innerhalb der Familie) weiter zu funktionieren.
Beide Erkrankungsformen gehen mit einer typischen depressiven Symptomatik einher. Die hochfunktionelle Depression zeigt sich zusätzlich durch verstärkte körperliche Beschwerden. Dass eine psychische Krankheit dahintersteckt, erkennen Außenstehende oft erst spät. Denn Betroffene verstecken ihren Leidensdruck hinter einer meist überdurchschnittlichen Leistungsfähigkeit. Langfristig kann diese Form der Depression besonders gefährlich sein, da sie häufig nicht oder erst spät behandelt wird. Entsprechend hoch ist die Suizidalität.
Hochfunktionale Depression: Was ist das?
Menschen mit einer hochfunktionalen Depression (hochfunktionelle Depression, High Functioning Depression) leiden unter ähnlichen Beschwerden wie Erkrankte einer klassischen Depression (Major Depression) – mit dem Unterschied, dass sie dies vor ihren Mitmenschen verbergen und ihren Alltag scheinbar ohne Hürden meistern.
Die hochfunktionale Depression wird den sogenannten atypischen Depressionsformen zugeordnet, die Fachleute zu den "sonstigen depressiven Episoden" zählen. Atypische Depressionen machen in Deutschland rund 15 bis 20 Prozent aller depressiven Störungen aus und unterscheiden sich entweder in Dauer oder Art von der klassischen Störung. Wichtigstes Merkmal atypischer Depressionserkrankungen ist die sogenannte affektive Reagibilität. Das bedeutet, dass sich die Stimmung Betroffener vorrübergehend aufgrund bestimmter Ereignisse bessern kann.
Die Erkrankungsform, die als Variante der atypischen Depression gilt, ist bislang wenig erforscht. Eine standardisierte Definition gibt es daher noch nicht. Zudem gibt es Überschneidungen mit anderen atypischen depressiven Zuständen:
Dysthymie (dysthymic disorder, dysthymia): Menschen mit einer sogenannten Dysthymie können Symptome einer hochfunktionalen Depression aufweisen. Eine Dysthymie definiert sich durch depressive Episoden, die über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren auftreten, also deutlich länger als bei einer typischen Depression. Dabei ist die Symptomatik jedoch schwächer ausgeprägt; auch können längere Phasen symptomfrei verlaufen. Daher führen Betroffene ihren Alltag häufig normal weiter. Dies kann viel Anstrengung kosten – auch, weil Außenstehende die psychische Störung weniger ernst nehmen.
Lächelnde Depression (smiling depression): Betroffene dieser Form der atypischen Depression verbergen ihre seelischen Beschwerden hinter einer Fassade und setzen alles daran, ihre Erkrankung zu verheimlichen. Grund dafür ist unter anderem ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis und der Wunsch, es allen Mitmenschen recht zu machen.
Larvierte Depression: Die Symptomatik der sogenannten larvierten, somatisierten oder maskierten Depression äußert sich vor allem körperlich. Betroffene bemerken an sich nicht etwa depressive Verstimmungen, sondern verschiedenste körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Magen-Darm-Problemen, Herzrasen (Tachykardie) und Mundtrockenheit.
Hochfunktionale Depression: Wer ist betroffen?
Aktuellen Erkenntnissen zufolge sind vor allem Frauen betroffen – insbesondere arbeitende Mütter, die hohe Erwartungen an sich stellen, viel Verantwortung übernehmen und so einem hohen Stresspegel ausgesetzt sind. Aus Scham und Versagensangst versuchen sie, ihren Leidensdruck zu verbergen.
Ursachen der hochfunktionalen Depression
Die Auslöser einer hochfunktionalen Depression sind wie auch die Ursachen der typischen Depression durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zu erklären. Neben einer genetischen Veranlagung und neurobiologischen Ursachen können folgende Faktoren zur Entstehung beitragen:
- Traumata und belastende Erlebnisse in der Kindheit (z. B. Missbrauch oder Gewalterfahrungen)
- hohes Stresslevel über einen längeren Zeitraum, etwa im Job
- Zukunftsängste und finanzielle Schwierigkeiten
- belastende Lebensereignisse wie eine Trennung oder der Verlust eines geliebten Menschen
- Substanzabhängigkeit (etwa von Alkohol oder Medikamenten)
- körperliche Erkrankungen und chronischer Schmerz
Personen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur sind zudem besonders gefährdet, zu erkranken. Hierzu zählen Eigenschaften wie
- ein geringes Selbstbewusstsein,
- ein Hang zu Perfektionismus,
- und übermäßige Selbstkritik.
Derlei Merkmale entstehen vermutlich in einem Zusammenspiel sozialer, familiärer und genetischer Komponenten. Dass eine erbliche Vorbelastung das Erkrankungsrisiko erhöhen kann, ist inzwischen vielfach erforscht. Um die Wahrscheinlichkeit besser messen zu können, bestimmen Fachleute sogenannte Endophänotypen. Endophänotype sind Marker, durch welche sich für psychische Erkrankungen relevante Gene nachweisen lassen.
Hochfunktionale Depression: Welche Symptome sind typisch?
Grundsätzlich ähneln die Symptome einer hochfunktionalen Depression der einer klassischen depressiven Erkrankung. Der grundlegende Unterschied: Die Beschwerden sind für Außenstehende kaum zu erkennen:
Die Leistungsfähigkeit Betroffener bleibt trotz depressiver Verstimmung konstant, oft sogar auf einem hohen Niveau.
Zudem scheinen Erkrankte meist ein erfülltes Sozialleben zu haben: Sie befinden sich etwa in einer stabilen Partnerschaft, haben eine Familie und nehmen am gesellschaftlichen Leben teil.
Im Inneren der Betroffenen sieht es jedoch ganz anders aus. Sie leiden unter belastenden negativen Gefühlen wie
- Verzweiflung,
- Traurigkeit,
- und Hoffnungslosigkeit.
Typisches Anzeichen ist auch eine starke mentale und körperliche Erschöpfung. Dieser Erschöpfungszustand sorgt für ein besonders hohes Schlafbedürfnis (Hypersomnie). Da viele Betroffene jedoch eine starke Tendenz zu Perfektionismus aufweisen und das Gefühl haben, funktionieren zu müssen, gestatten sie sich kaum Pausen. Eine häufige Folge ist Überforderung, die langfristig auch ein Burnout-Syndrom auslösen kann.
Ein weiteres typisches Anzeichen ist ständiges Grübeln. Insbesondere abends geraten Betroffene häufig in einen negativen Gedankenstrudel, der zu Schlafstörungen führen kann. Um trotz ihres Erschöpfungszustandes weiter zu funktionieren, kommt es mitunter zu Tablettenmissbrauch.
Weitere mögliche Symptome sind:
- Gefühl innerer Leere und die Unfähigkeit, Freude zu empfinden (Anhedonie)
- erhöhte Reizbarkeit
- Energiemangel und Konzentrationsschwäche
- Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen
- unregelmäßiges Essverhalten mit deutlich gesteigertem Appetit (Hyperphagie), wodurch es oft zu einer Gewichtszunahme kommt
- verminderte Begeisterungsfähigkeit und Interessenverlust an Aktivitäten, die zuvor Spaß bereitet haben.
- Gefühl der Erschöpfung während und nach sozialer Interaktion
- Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisungen
- Störung des sexuellen Lustempfindens
Körperliche Symptome: Typisch bei atypischen Depressionen
Untersuchungen zeigen, dass Patient*innen atypischer Depressionserkrankungen häufiger unter somatischen Beschwerden leiden als Betroffene klassischer Depressionen. Einige Beispiele:
- allgemeines Krankheitsgefühl
- erhöhte Infektanfälligkeit
- Schmerzen und Druckgefühl in der Brust sowie Atemnot (Dyspnoe)
- Verdauungsprobleme und Magen-Darm-Probleme
- Übelkeit, Schwindel und Sehstörungen wie Flimmern vor den Augen
- Kopfschmerzen und Rückenschmerzen
- bleierne Schwere sowie Taubheitsgefühle (Hypästhesie) in Armen und Beinen
- Muskelschmerzen und Gliederschmerzen
Erleben betroffene Personen eine Lebenskrise, etwa aufgrund einer Trennung oder eines Verlusts, verstärken sich die Symptome typischerweise.
Wie wird eine hochfunktionale Depression diagnostiziert?
Eine hochfunktionale Depression lässt sich schwer diagnostizieren. Das liegt daran, dass
- die Symptomatik anders als bei der klassischen Depression nach außen kaum sichtbar ist und
- sich Betroffene meist erst spät Hilfe holen, da es nicht in ihr meist perfektionistisches Selbstbild passt, psychisch krank zu sein.
Oft wird die depressive Störung daher erst erkannt, wenn Betroffene etwa aufgrund von körperlichen Anzeichen wie Erschöpfung, Schlafstörungen oder wiederkehrenden Schmerzen ärztlichen Rat aufsuchen. Findet der*die Arzt*Ärztin keinen körperlichen Auslöser, kann bereits ein erster Verdacht auf eine psychosomatische Ursache fallen. Zur weiteren Diagnostik erfolgt eine Überweisung in eine psychotherapeutische Praxis.
Da es für diese Depressionsform bislang kein eigenes Klassifikationssystem gibt, wird diese Depressionsform anhand des allgemeinen Diagnosekatalogs für atypische Depressionen ermittelt. So muss ein Mindestmaß verschiedener Haupt- und Nebensymptome (wie gesteigerter Appetit, extreme Müdigkeit oder somatische Beschwerden) erfüllt sein, die über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen auftreten. Dies gelingt dem*der Psychotherapeut*Psychotherapeutin anhand verschiedener Tests und Fragebögen.
Komorbide Störungen bei hochfunktionaler Depression
Mitunter gehen atypische Depressionen mit Begleiterkrankungen einher. Häufig treten etwa folgende Störungen parallel auf:
- Essstörungen, insbesondere Bulimie und Binge-Eating-Störung
- Körperschemastörung (Dysmorphophobie)
- Angststörungen wie die soziale Phobie
Achtung: Selbsttests, die Betroffene etwa online finden, können zwar erste Hinweise auf eine mögliche Erkrankung liefern. Sie ersetzen jedoch keine medizinische Diagnose. Bei Verdacht auf eine psychische Erkrankung sollte daher immer ärztlicher Rat hinzugezogen werden.
Wie wird eine hochfunktionale Depression behandelt?
Für die Therapie atypischer Depressionen wie der hochfunktionalen Depression kommen ähnliche Behandlungsmöglichkeiten infrage wie bei der klassischen Erkrankung. Wichtigste Voraussetzung ist jedoch, dass Betroffene bereit sind, Hilfe anzunehmen. Dies ist gerade bei hochfunktionalen Depressionen oft nicht der Fall.
Fachleute empfehlen hauptsächlich drei Bausteine, um die Beschwerden einer depressiven Störung zu lindern:
1. Psychotherapie
Wird eine hochfunktionale Depression diagnostiziert, ist eine Psychotherapie sinnvoll. Welche Therapieform sich dabei eignet, kann ganz individuell sein. So kann beispielsweise eine kognitive Verhaltenstherapie Wirkung zeigen.
Hier erlernen Patient*innen etwa Kompetenzen zur Stressbewältigung. Ziel der Therapie ist es auch, mögliche Trigger zu ermitteln, diese im Akutfall zu erkennen und entgegenzuwirken. Zudem hilft der*die Psychotherapeut*Psychotherapeutin dabei, negative Gedanken und Ängste rationaler einzuordnen und zu kontrollieren.
Weitere mögliche Therapieformen sind beispielsweise Familientherapien oder auch Selbsthilfegruppen. In schwerwiegenden Fällen, in denen etwa das Risiko einer Suizidalität besteht, kann ein stationärer Aufenthalt in einer Psychiatrie notwendig sein. Auch teilstationäre Behandlungsformen, etwa in einer Tagesklinik, sind möglich.
2. Medikamentöse Behandlung
Zusätzlich können atypische Depressionen mit Medikamenten behandelt werden. Als wirksam gelten selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und Moclobemid (Antidepressivum aus der Gruppe der MAO-Hemmer), wobei Studien zeigen, dass ein Großteil der Menschen besser auf MAO-Hemmer als auf SSRI anspringt. Gängige MAO-Hemmer sind etwa:
- Phenelzin
- Tranylcypromin
- Isocarboxazid
- Selegilin
Die Einnahme von MAO-Hemmern geht jedoch mit starken Einschränkungen der Ernährung einher: Der Wirkstoff sorgt für einen starken Anstieg des Blutdrucks, weshalb keine Lebensmittel mit hohem Tyramingehalt konsumiert werden dürfen. Dazu zählen etwa verarbeitete Wurstwaren, Leber, würzige Käsesorten, Fischkonserven, Schalentiere, Hefe, eingelegtes Gemüse, Avocado, Himbeeren, Ananas und Rhabarber.
3. Veränderung des Lebensstils
Je nach Ursache der psychischen Störung gilt es, etwaige Auslöser aus dem Weg zu räumen. Einer der wichtigsten Faktoren ist es, übermäßigen Stress zu vermeiden. Dies kann gelingen, indem erkrankte Menschen etwa ihre Arbeitsstunden reduzieren oder sich in der Kinderbetreuung Hilfe holen und lernen, Verantwortung abzugeben. Auch frische Luft, Bewegung und eine ausgewogene Ernährung sowie ein stabiles soziales Netzwerk können förderlich sein. Ein Risikofaktor, den es zu vermeiden gilt, ist Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Gelingt dies nicht ohne fremde Hilfe, kann eine Suchtberatung sinnvoll sein.
Wichtig: Ausreichend Entspannung und Pausen sind wichtig, um übermäßigen Stress und dessen Folgen zu vermeiden. Studien zeigen allerdings, dass langer Schlaf, insbesondere am Tag, depressive Erkrankungen fördern kann. Der Fokus sollte daher auf der Wiederherstellung eines gesunden Schlafrhythmus und ausreichend Pausen über den Tag verteilt liegen.
Hochfunktionale Depression: Verlauf und Prognose
Da es bislang an Forschungen zur hochfunktionalen Depression fehlt, lassen sich schwer Aussagen zu Verlauf und Prognose der psychischen Störung treffen. Fachleute vermuten jedoch, dass die Prognose dieser Depressionsform eher ungünstig ist und mit einer vergleichsweise hohen Suizidrate einhergeht. Der Grund: Erkrankte suchen sich oft zu spät Hilfe und erhalten daher nicht rechtzeitig die benötigte Therapie.
Da ihr Umfeld meist nichts von ihrem Leidensdruck mitbekommt, kostet es oft eine große Überwindung, offen mit der Erkrankung umzugehen. Häufig stoßen Betroffene auf Unverständnis und müssen sich anhören, dass sie ja "gar nicht depressiv wirken". Umso wichtiger ist es, ein Bewusstsein für verschiedene Arten und Ausprägungen der Depression zu schaffen. Denn dass eine Erkrankung nicht sichtbar ist, sagt nichts über den Leidensdruck aus, den sie verursacht.