Adrenogenitales Syndrom (AGS): Ursache, Symptome & Behandlung
Das adrenogenitale Syndrom (AGS) ist eine erblich bedingte Stoffwechselerkrankung, bei der zu viele männliche Geschlechtshormone gebildet werden. Bei Mädchen kann sie zur Vermännlichung des Geschlechts wie einer Klitorishypertrophie führen. Welche weiteren Symptome können auftreten und wie lässt sich AGS behandeln?
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Mediziner*innen geprüft.
Was ist das adrenogenitale Syndrom (AGS)?
Adrenogenitales Syndrom (AGS) ist ein Sammelbegriff für verschiedene erblich bedingte Stoffwechselerkrankungen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass in der Nebennierenrinde die Bildung von Hormonen gestört ist, weil ein Enzym nicht richtig funktioniert.
Die Nebennieren benötigen das betroffene Enzym, um die Hormone Cortisol und Aldosteron zu bilden. Wenn eins der Enzyme nicht richtig funktioniert, entsteht ein Mangel an Nebennierenrindenhormonen. Dann passiert Folgendes:
- Der Hormonmangel setzt einen Kontroll- und Regulationsmechanismus über die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) in Gang, der die Nebennieren anregt.
- Die angeregten Nebennieren wachsen und arbeiten verstärkt. Durch den Enzymdefekt können die betroffenen Stoffwechselvorgänge jedoch nur bis zu der Stelle ablaufen, an der das defekte Enzym steht.
- Die bis dahin aus dem Ausgangsstoff gebildeten Hormonvorstufen können nicht mehr weiter zu Cortisol umgebaut werden und sammeln sich an.
- Zum Teil gelangen diese Hormonvorstufen in einen anderen Stoffwechselweg und wandeln sich dort zu männlichen Sexualhormonen (Androgenen) um – in den Nebennieren bilden sich vermehrt Androgene.
Es besteht also ein Mangel an Stresshormonen, weshalb sich in der Folge zu viele männliche Sexualhormone bilden.
Formen des adrenogenitalen Syndroms
Ein AGS kann in folgenden Formen auftreten:
- als klassisches AGS, das bereits bei Neugeborenen Symptome hervorruft, und
- als nicht-klassisches AGS, das meist erst in der Pubertät oder im Erwachsenenalter in Erscheinung tritt und wesentlich milder verläuft.
Zum nicht-klassischen AGS zählen
- die Late-onset-Form (bei der die Symptome erst spät auftreten) und
- die kryptische Form (die ohne wesentliche Symptome verläuft).
Häufigkeit des AGS
Etwa einer von 13.000 Menschen hat ein klassisches adrenogenitales Syndrom. Doch mindestens 200-mal mehr Menschen tragen das entsprechende Erbmerkmal in sich, ohne selbst an AGS zu erkranken.
Das nicht-klassische AGS tritt deutlich häufiger auf als das klassische: Schätzungsweise einer von 100 bis einer von 1.000 Menschen hat ein adrenogenitales Syndrom der Late-onset-Form.
Mädchen und Jungen erkranken etwa gleich häufig, jedoch zeigen sich bei ihnen unterschiedliche Symptome.
Ursachen des adrenogenitalen Syndroms (AGS)
Als Ursache für ein adrenogenitales Syndrom kommen verschiedene Enzymdefekte infrage.
In etwa 90 Prozent der Fälle ist ein Defekt am Enzym namens 21-Hydroxylase verantwortlich.
Weitere Enzymdefekte, die ein adrenogenitales Syndrom verursachen können, sind zum Beispiel
- der 11-beta-Hydroxylase-Defekt (in ca. 5% der Fälle),
- der 17-alpha-Hydroxylase-Defekt oder
- der 3-beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Defekt.
Vereinzelt stecken auch andere, noch seltenere Enzymdefekte hinter einem AGS.
Hormone der Nebennierenrinde: Cortisol, Aldosteron und Androgene
Cortisol wird auch als Stresshormon bezeichnet. Es erfüllt wichtige Funktionen im Energiehaushalt und wirkt im Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißstoffwechsel. Darüber hinaus wirkt Cortisol entzündungshemmend, unterdrückt Abwehrreaktionen des Körpers und reguliert den Wasserhaushalt (ähnlich wie Aldosteron).
Aldosteron verhindert, dass der Körper zu viel Salz über die Nieren ausscheidet. Wenn der Körper zu wenig Aldosteron bildet, bedeutet das einen Salz- und Wasserverlust, wodurch der Blutdruck fällt und ein Salzverlustsyndrom entsteht (typisch hierfür sind neben niedrigem Blutdruck z. B. zu hohe Kaliumwerte im Blut und nächtliche Wadenkrämpfe).
Androgene sind männliche Geschlechtshormone, die einen verstärkten Haarwuchs, Muskelzuwachs und eine tiefe Stimme bewirken. Bei Frauen bewirken sie eine allgemeine Vermännlichung.
Vererbung des adrenogenitalen Syndroms
In etwa 90 Prozent der Fälle entsteht ein adrenogenitales Syndrom dadurch, dass das Enzym 21-Hydroxylase (21-OH) nicht richtig funktioniert. Dieser Enzymdefekt ist autosomal-rezessiv vererbbar – das heißt, die Vererbung ist unabhängig vom Geschlecht des Kindes (autosomal) und AGS tritt nur auf, wenn die Person sowohl von der Mutter als auch vom Vater die entsprechende Eigenschaft erbt (rezessiv).
Adrenogenitales Syndrom (AGS): Symptome bei Mädchen und Jungen
Ein adrenogenitales Syndrom kann durch verschiedene Symptome gekennzeichnet sein – je nach genauer Ursache für die Stoffwechselstörung und nach Geschlecht der Betroffenen.
Abhängig davon, wann das Syndrom erstmals deutliche Symptome hervorruft, unterscheidet man klassische und nicht-klassische Verlaufsformen.
Klassisches adrenogenitales Syndrom
Ein klassisches adrenogenitales Syndrom ruft bei Mädchen und Jungen unterschiedliche Symptome hervor.
Bei Mädchen macht sich ein klassisches adrenogenitales Syndrom bereits bei der Geburt deutlich bemerkbar. Die betroffenen Mädchen haben schon als Neugeborene vermännlichte äußere Geschlechtsorgane, weil sie bereits in der Schwangerschaft zu viele männliche Hormone (Androgene) abbekommen haben.
Die Symptome dieser Vermännlichung (Androgenisierung) reichen von einer leichten Klitorisvergrößerung (Klitorishypertrophie) bis hin zur Bildung eines Pseudopenis. Auf die inneren Geschlechtsorgane wirkt sich das AGS hingegen nicht aus – sie sind normal ausgebildet.
Später führt ein klassisches adrenogenitales Syndrom bei ihnen zu einer vorzeitigen Schambehaarung. Dabei sind die betroffenen Mädchen allgemein stärker behaart als andere Mädchen. Zudem bekommen sie ein männliches Behaarungsmuster – zum Beispiel Haare an der Oberlippe oder auf der Brust (Hirsutismus).
Bei manchen Mädchen mit AGS bleibt auch die Regelblutung aus (Amenorrhö) und die Brust entwickelt sich nicht. Ihre Fähigkeit, Kinder zu zeugen, ist stark eingeschränkt, solange das Syndrom unbehandelt bleibt.
Bei Jungen verursacht ein klassisches adrenogenitales Syndrom zunächst keine äußerlich sichtbaren Symptome: Ihre äußeren Geschlechtsorgane sind normal entwickelt.
Häufig tritt die Störung bei Jungen erst durch eine vorzeitige Geschlechtsentwicklung deutlich zutage: In dieser sogenannten Scheinpubertät (bzw. Pseudopubertät) bewirkt der hohe Androgenspiegel, dass Schamhaare und Penis wachsen.
Die Hoden sehen aber noch kindlich aus – sie sind, wenn das AGS unbehandelt bleibt, auch später stark verkleinert und können keine Spermien bilden: Die Betroffenen sind zeugungsunfähig.
Bei Mädchen wie bei Jungen führt ein unbehandeltes adrenogenitales Syndrom dazu, dass sie zunächst sehr schnell und zu stark wachsen. Allerdings schließen sich auch die knorpeligen Wachstumszonen der Knochen (sog. Epiphysenfugen) schneller, sodass das Wachstum frühzeitig endet. Ohne rechtzeitige Behandlung sind Erwachsene mit AGS kleinwüchsig.
Wer ein adrenogenitales Syndrom hat und unbehandelt bleibt, ist als Kind größer und als Erwachsener kleiner als der Durchschnitt.
Weitere Symptome für ein klassisches adrenogenitales Syndrom, die bei beiden Geschlechtern auftreten können:
- Müdigkeit
- Stressanfälligkeit
- Unterzuckerung (Hypoglykämie)
- erhöhte Infektanfälligkeit
Klassisches adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust
In etwa jedem zweiten Fall geht ein klassisches adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust einher. Ein solches Salzverlustsyndrom ist durch zusätzliche Symptome gekennzeichnet, die bereits in den ersten Lebenswochen auftreten und lebensbedrohlich sein können: Die betroffenen Kinder erbrechen, sind teilnahmslos (apathisch) und verlieren stark an Gewicht. Es kommt zu schweren Störungen im Mineralhaushalt und zu einer Übersäuerung des Bluts (Azidose) mit Symptomen wie Übelkeit und Erbrechen.
Nicht-klassisches adrenogenitales Syndrom
Ein nicht-klassisches adrenogenitales Syndrom zeigt sich – wenn überhaupt – deutlich später als die klassische Form: Beim sogenannten Late-onset-AGS treten die Symptome erst in der Pubertät auf. Bei der Geburt fallen die betroffenen Mädchen also noch nicht auf – ihre äußeren Geschlechtsorgane sind normal ausgebildet.
Später macht sich das Late-onset-AGS ähnlich bemerkbar wie ein einfaches klassisches adrenogenitales Syndrom – allerdings sind die Symptome milder ausgeprägt. Die Betroffenen bekommen frühzeitig Schambehaarung. Mädchen beziehungsweise Frauen entwickeln zudem folgende Merkmale:
- vermehrte Behaarung
- fettige Haut
- Akne
- tiefe Stimme
- Menstruationsstörungen
Wenn ein nicht-klassisches adrenogenitales Syndrom trotz messbarer Veränderungen im Hormonhaushalt keine wesentlichen Symptome verursacht, liegt ein sogenanntes kryptisches AGS vor.
Adrenogenitales Syndrom: Diagnose
Bereits im Neugeborenenscreening werden alle Kinder auf einen 21-Hydroxylasemangel untersucht. Dabei lassen sich jedoch nur die klassischen Formen entdecken.
Ansonsten kann die*der Ärztin*Arzt ein adrenogenitales Syndrom anhand der Symptome und mithilfe einer Blutuntersuchung diagnostizieren: Typischerweise ist die Konzentration bestimmter Hormone bei der Stoffwechselerkrankung um ein Vielfaches erhöht (z. B. 17-alpha-Hydroxyprogesteron, wenn ein Defekt am Enzym namens 21-Hydroxylase hinter dem Syndrom steckt).
So kann eine Hyperandrogenämie ein Hinweis auf AGS sein. Diese liegt vor, wenn im Blut zu viele männliche Geschlechtshormone vorhanden sind.
Liegt ein adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust vor, lässt sich im Blut auch
- ein Mangel an Natrium,
- ein zu hoher Kaliumspiegel
- und eine Übersäuerung des Bluts (Azidose)
nachweisen.
Zudem kann eine Urinuntersuchung zur Diagnose eines AGS beitragen: Im Urin ist die Konzentration von Abbauprodukten der im Übermaß gebildeten Hormone erhöht (z. B. Pregnantriol = Abbauprodukt von 17-alpha-Hydroxyprogesteron).
Wenn sich ein adrenogenitales Syndrom (noch) nicht äußerlich bemerkbar macht, bietet sich der sogenannte ACTH-Test zur Diagnose an: Hierbei bekommt man das adrenocorticotrope Hormon (ein die Nebennierenrinde anregendes Hormon) gespritzt, wodurch die Konzentration von 17-Hydroxyprogesteron deutlich steigt. Der ACTH-Test ist auch geeignet, um festzustellen, ob ein gesunder Mensch das Erbmerkmal für das AGS in sich trägt und somit an seine Kinder vererben kann.
Letzteres gelingt auch durch eine DNA-Untersuchung: In einer Blutprobe lassen sich die Veränderungen am Erbgut (sog. Genmutationen) nachweisen, die für ein adrenogenitales Syndrom verantwortlich sind.
Behandlung des adrenogenitales Syndroms
Ein adrenogenitales Syndrom lässt sich durch Medikamente gut in den Griff bekommen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Therapie individuell so eingestellt ist, dass die Betroffenen jederzeit genau die Dosis erhalten, die sie benötigen.
Hormonersatztherapie
In erster Linie macht ein adrenogenitales Syndrom eine sogenannte Hormonersatztherapie notwendig: Die Therapie besteht darin, das fehlende Hormon Cortisol lebenslang einzunehmen – in der Regel in Form von Tabletten. Nur unter bestimmten Umständen (z. B. bei Erbrechen) kann es beim AGS sinnvoll sein, das Mittel zu spritzen. Für Säuglinge gibt es ein geschmacksneutrasles Granulat.
Da Cortisol ein Stresshormon ist, benötigt der Körper es in Belastungssituationen verstärkt. Deshalb ist es für Menschen mit adrenogenitalem Syndrom in Stresssituationen (z.B. bei Infekten mit Fieber, Operationen oder einer besonders starken körperlichen Anstrengung) wichtig, die Medikamentendosis zu erhöhen.
Geht ein adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust einher, gilt es, außer Cortisol auch noch das fehlende Hormon Aldosteron in Form von Fludrocortison zu ersetzen. Dies geschieht ebenfalls in Form von Tabletten.
Gegen die bei Frauen typische Vermännlichung kann zudem eine Therapie mit einem Antiandrogen (wie Cyproteron) helfen.
Wann ist eine Operation sinnvoll?
Sind die äußeren Geschlechtsorgane bei Mädchen vermännlicht (d. h. Klitorisvergrößerung und verkleinerter Scheideneingang), können erfahrene Spezialisten diese operativ korrigieren. In der Regel findet eine solche Operation im ersten Lebensjahr statt. Sowohl der Zeitpunkt der Operation als auch die Notwendigkeit werden jedoch von Fachleuten kontrovers diskutiert.
Wenn ein adrenogenitales Syndrom mehrere solcher Operationen nötig macht, kann für die betroffenen Kinder und Jugendlichen begleitend eine Psychotherapie sinnvoll sein – vor allem dann, wenn sich die Behandlung des AGS bis in die Pubertät oder sogar darüber hinaus erstreckt.
Behandlung des nicht-klassischen adrenogenitalen Syndroms: Nicht immer nötig
Patientinnen mit nicht klassischem adrenogenitalem Syndrom benötigen nur eine Therapie, wenn relevante Symptome auftreten. Im Kindesalter kommt eine niedrige Gabe von Cortisol in Betracht, im Erwachsenenalter kann die Antibabypille männliche Geschlechtshormone unterdrücken.
Adrenogenitales Syndrom: Verlauf und Vorbeugen
Wie ein adrenogenitales Syndrom unbehandelt verläuft, hängt in erster Linie von seiner Ursache ab: Während die Stoffwechselerkrankung in manchen Fällen sehr milde ausgeprägt ist und sich erst spät oder gar nicht bemerkbar macht, kann sie im anderen Extremfall schon in den ersten Lebenswochen schwerwiegende Komplikationen (sog. Salzverlustkrise) hervorrufen.
Richtig behandelt nimmt ein adrenogenitales Syndrom aber in der Regel einen guten Verlauf – vorausgesetzt, die nötige Medikamentendosis ist richtig eingestellt, sodass die Betroffenen so viele Hormone bekommen, wie sie brauchen.
Das bedeutet: Für eine gute Prognose ist es notwendig, die Medikation individuell festzulegen und regelmäßig zu überprüfen. Wenn dies gelingt, können die betroffenen Frauen und Männer trotz AGS normal Kinder zeugen und bekommen.
Eine Über- oder Unterdosierung der Medikamente gegen ein adrenogenitales Syndrom kann jedoch schwerwiegende Folgen haben – zum Beispiel:
- Kleinwüchsigkeit
- Übergewicht
- zu hoher Blutdruck
- Unfruchtbarkeit
- Diabetes mellitus
- Salzverlustsyndrom mit Elektrolystörung, Erbrechen und Durchfall
Kann man einem Adrenogenitales Syndrom vorbeugen?
Ein adrenogenitales Syndrom ist erblich bedingt – unmittelbar vorbeugen kann man der Erkrankung daher nicht. Paare, die bereits ein Kind mit AGS haben oder bei denen bekannt ist, dass einer der Partner die erbliche Veranlagung dazu hat, können sich medizinisch beraten lassen, wenn sie sich weitere Kinder wünschen.