Das Rückenmark – Brücke zwischen Kopf und Körper
Wie kommunizieren Kopf und Körper miteinander? Wie gelangen Anweisungen vom Gehirn in den restlichen Teil des Körpers? Auf welchem Weg werden Empfindungen und Informationen aus Armen, Beinen oder Organen ins Gehirn übertragen, wo sie verarbeitet werden können? Der Austausch findet über viele verschiedene Nervenbahnen statt, die in einer Schaltzentrale aufeinandertreffen: dem Rückenmark. Es bildet die Brücke zwischen Gehirn und restlichem Körper.
Allgemeines
Das Rückenmark gehört neben dem Gehirn zum zentralen Nervensystem (ZNS). Der fingerdicke zylindrische Strang aus Faserbündeln und Nervenzellen verläuft im Wirbelkanal vom Hals bis zum Steißbein zwischen den verschiedenen Wirbeln der Wirbelsäule. Beim Neugeborenen reicht das Rückenmark vom unteren Teil des Gehirns (Medulla oblongata) bis zu den untersten Nervenwurzeln, die den Wirbelkanal im Bereich des Kreuzbeins verlassen. Beim Erwachsenen endet es bereits weiter oben etwa auf Höhe des zweiten Lendenwirbels, was daran liegt, dass die Wirbelsäule während des Wachstums einige Zentimeter mehr an Größe zulegt als das Rückenmark.
Da das Rückenmarkgewebe zusammen mit dem Gewebe des Gehirns das empfindlichste des menschlichen Körpers ist, sorgen der Wirbelkanal und die Rückenmarkshäute dafür, dass es gut geschützt ist. Einen weiteren Schutz bietet außerdem eine Flüssigkeit, der sogenannte Liquor. Gehirn und Rückenmark "schwimmen" vollständig in dieser Flüssigkeit.
Funktionen
Im Rückenmark treffen "ankommende Nervenbahnen" und "wegführende Nervenbahnen" zusammen. Sie sorgen über Nervensignale für den Informationsaustausch zwischen Gehirn auf der einen Seite und Skelettmuskulatur, Sinnesorganen und inneren Organen auf der anderen Seite. Die Rückenmarksnervenzellen (Spinalnerven) bestehen aus einer vorderen und hinteren Wurzel. In der hinteren Wurzel treten zum Gehirn führende (afferente) Nervenbahnen in Form von Wurzelfäden ins Rückenmark ein, in der vorderen Wurzel verlassen vom Gehirn wegführende (efferente) Nervenbahnen das Rückenmark. Ein Nerv ist dementsprechend ein Faserbündel mit verschiedenen Funktionen und Verlaufsrichtungen.
Obwohl das Rückenmark kürzer ist als die Wirbelsäule, treten die Wurzelfäden der Spinalnerven immer jeweils zwischen zwei nebeneinanderliegenden Wirbeln im sogenannten Zwischenwirbelloch aus dem Wirbelkanal aus oder in ihn hinein. Insgesamt beherbergt das Rückenmark 31 Spinalnervenpaare:
- 8 zervikale Spinalnervenpaare aus dem Halsmark (von lat. cervix = Hals)
- 12 thorakale Nervenpaare aus dem Brustmark (von griech. thorax = Rumpf, Brustraum)
- 5 Lumbalnervenpaare aus dem Lendenmark (lat. lumbus = Lende)
- 5 Sakralnervenpaare aus dem Kreuzbeinmark (lat. os sacrum = Kreuzbein) und
- 1-2 Coccygealnervenpaare aus dem Steißbeinmark (lat. coccyx = Steißbein).
Die absteigenden, sogenannten efferenten Nervenbahnen vermitteln Signale des Gehirns an die Muskeln des Skeletts und die Organe. In umgekehrter Richtung leiten aufsteigende (afferente) Nervenbahnen sensorische Informationen von Haut, Muskeln, Gelenken und Organen über das Rückenmark an das Gehirn weiter. Als sensorische Informationen bezeichnet man durch Reize der Sinnesorgane ausgelöste Empfindungen wie zum Beispiel Berührungen, Druck, Kälte, Wärme und Schmerz.
Damit dient das Rückenmark als Verbindungsstelle zwischen den höher gelegenen Teilen des zentralen Nervensystems (verlängertes Mark und Gehirn) und dem peripheren Nervensystem. Das zentrale Nervensystem umfasst Großhirn, Kleinhirn und Rückenmark. Das periphere Nervensystem umfasst alle Nerven, die sich außerhalb von Rückenmark und Gehirn (peripher = vom Körperstamm entfernt, außen, am Rand liegend) befinden, zum Beispiel Nerven in Armen und Beinen. Im Kopf- und Halsbereich leiten Hirnnerven Reize an die dort befindlichen Muskeln weiter, im restlichen Körper sind dafür Spinalnerven zuständig. Die Spinalnerven sind mit dem Rückenmark verbunden, Hirnnerven haben eine Verbindung zum Gehirn. Zusammen bilden Rückenmark und Gehirn das zentrale Nervensystem.
Im Rückenmark befinden sich Anteile des somatischen (animalen) und des vegetativen (autonomen) Nervensystems. Die Unterscheidung zwischen somatisch und vegetativ bezieht sich auf die Funktionen des Nervensystems, wohingegen die Unterscheidung zwischen zentral und peripher sich auf die Lage der Nerven im Körper bezieht.
Das somatische Nervensystem vermittelt zwischen Organismus und Umwelt. Es steuert die Bewegungen der Skelettmuskulatur und ist somit für die willkürlichen (bewusst gesteuerten) Funktionen und durch innere oder äußere Reize ausgelöste Reflexe des Organismus zuständig.
Zum vegetativen Nervensystem gehören Nervenzellen, deren Funktionen der Mensch nicht willentlich beeinflussen kann. Das vegetative Nervensystem regelt lebenswichtige Funktionen (Vitalfunktionen) wie beispielsweise Atmung, Verdauung, Stoffwechsel und Wasserhaushalt und sichert das Zusammenspiel der einzelnen Körperteile. Dabei passt es die Körperfunktionen an äußere Umwelterfordernisse an.
Das somatische Nervensystem steuert die Funktionen der Skelettmuskulatur und der Sinnesorgane, über das vegetative Nervensystem werden Impulse an die inneren Organe vermittelt.
Reflexe
Neben der beeinflussbaren Steuerung der Muskulaturbewegungen entstehen im Rückenmark auch Reflexe. Als Reflexe bezeichnet man unbewusste, immer gleiche Reaktionen des Organismus, die entweder aus der Umwelt oder aus dem Körperinneren im zentralen Nervensystem ankommen.
Ein Beispiel für eine solche unbewusste immer gleich bleibende Reaktion des Körpers auf Reize ist der Patellarsehnenreflex. Ein leichter Schlag mit dem Reflexhammer auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe (Patella) löst ein kurzes Muskelzucken des Kniegelenkstreckers aus.
Die Rückenmarkreflexe entstehen über den sogenannten Reflexbogen. Dieser besteht aus
- einer afferenten Nervenzelle, die Impulse zum Rückenmark leitet,
- einem Rezeptor, der die Information aufnimmt,
- einer Synapse, die diese Information auf die Zelle im Vorderhorn, die für motorische Signale zuständig ist, umschaltet,
- einer efferenten Nervenzelle, die den Impuls vom Rückenmark wegführt hin zum
- Erfolgsorgan (Muskel), wo die Reaktion auf den Reiz ausgelöst wird.
Graue und weiße Substanz
Im Mittelpunkt des Rückenmarks lässt sich eine graue Substanz in Form eines Schmetterlings erkennen. Hier finden sich die Nervenzellkörper. Die graue Substanz ist umschlossen von einer weißen Substanz, in der hauptsächlich markhaltige Nervenfasern der auf- und absteigenden Nervenbahnen verlaufen.
Die Vorwölbungen der grauen Substanz werden unterteilt in Vorderhorn (vordere Vorwölbungen) und Hinterhorn (hintere Vorwölbungen). Im Bereich der Brust befindet sich zwischen den beiden Vorwölbungen des Rückenmarks zusätzlich ein Seitenhorn.
Das Vorderhorn enthält vor allem motorische Nervenzellen, deren efferente Nervenfasern das Rückenmark über die vordere Wurzel verlassen. Sie leiten überwiegend Signale zur Muskulatur weiter und heißen Motoneurone.
Im Hinterhorn befinden sich Zellen der Schaltneurone (Interneurone). Eintretende afferente Nervenfasern aus der Peripherie enden in einer Synapse, die Signale an die nächste Nervenfaser umschaltet.
In den Seitenhörnern im Brustbereich arbeiten motorische Nervenzellen des vegetativen Nervensystems. Hier verlassen efferente Nervenzellen, die Impulse vom Zellkörper wegleiten, das Rückenmark über die vordere Wurzel – sie übertragen Reize zu inneren Organen und Drüsen.
Die Zellkörper der afferenten Fasern liegen teilweise außerhalb des Rückenmarks. Dort gibt es Ansammlungen von Nervenzellkörpern, die eine Verdickung des Nervenstranges bilden. Diese Nervenknoten bezeichnet man an dieser Stelle als Spinalganglion. Hier treffen Informationen aus dem Körper ein und werden über die hintere Nervenwurzel ins Rückenmark geleitet.
Liquor
In der Mitte der grauen Substanz verläuft der mit Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit (Liquor, Liquor cerebrospinalis) gefüllte Zentralkanal des Rückenmarks. Liquor ist eine klare Flüssigkeit, die als Schutz dient, indem sie Erschütterungen dämpft. Die Rückenmarksflüssigkeit befindet sich außerdem in einem Zwischenraum (Subarachnoidalraum), der von den Rückenmarkshäuten begrenzt wird und Gehirn und Rückenmark umschließt. Das gesamte Zentralnervensystem "schwimmt" in Liquor.
Mittels eines einfachen Verfahrens (Lumbalpunktion) ist es für einen Mediziner möglich, Liquor zu entnehmen. Die Untersuchung der Flüssigkeit kann wichtige Hinweise über Vorgänge im Gehirn liefern. So kann sie zum Beispiel bei der Diagnose von Störungen innerhalb des ZNS (wie z.B. Infektionen oder Alzheimer) nützlich sein.
Rückenmarkshäute
Gehirn und Rückenmark sind nicht nur von Schädelknochen, Wirbelkanal und Liquor geschützt; zusätzlich umgeben bindegewebsartige Häute (Meningen) die empfindlichen Gewebe – sie dienen ebenfalls dem Schutz. Als Verlängerung der Hirnhäute umschließen die Rückenmarkshäute das Rückenmark und die Spinalnervenwurzeln im Wirbelkanal. Wie auch die Hirnhäute bestehen Rückenmarkshäute aus drei verschiedenen Schichten:
- harte Rückenmarkshaut (Dura mater spinalis)
- Spinnengewebshaut (Arachnoidea spinalis)
- weiche Rückenmarkshaut (Pia mater spinalis)
Die harte Rückenmarkshaut ist am Übergang von Gehirn zum Rückenmark (Hinterhauptloch, Foramen magnum) und in den Zwischenwirbelkörpern befestigt – sie erstreckt sich bis zum zweiten Kreuzbeinwirbel. Zwischen dem Knochen des Wirbelkanals und der harten Rückenmarkshaut befindet sich ein mit Fettgewebe gefüllter Zwischenraum, der ein Netz an venösen Blutgefäßen enthält.
Die Spinngewebshaut liegt direkt auf der harten Rückenmarkshaut auf. Daran grenzt ein weiterer Zwischenraum (Subarachnoidalraum), in dem sich die Rückenmarksflüssigkeit befindet. An der anderen Seite begrenzt die weiche Rückenmarkshaut den Subarachnoidalraum. Spinngewebshaut und weiche Rückenmarkshaut sind durch feine Bindegewebsstränge miteinander verbunden.
Verletzungen des Rückenmarks
Das Rückenmarkgewebe ist zusammen mit dem Gewebe des Gehirns das empfindlichste des menschlichen Körpers. Zahlreiche wichtige Nervenbahnen, die die Funktion von Muskeln und Organen steuern, verlaufen über das Rückenmark. Deshalb können Verletzungen des Rückenmarks erhebliche Folgen nach sich ziehen.
So kann es zum Beispiel zu sogenannten schlaffen Lähmungen kommen, wenn ein peripherer Nerv auf seinem Weg zum Muskel durchtrennt wird. Auch wenn die Zellkörper der Vorderhörner zerstört werden – wie bei der Poliomyelitis (Kinderlähmung) durch das Poliovirus – kann eine schlaffe Lähmung auftreten. Durch die Zerstörung der Nervenbahnen ist die Nervenversorgung unterbrochen, sodass die Muskeln weich und schlaff werden und verkümmern.
Weitere Schädigungen können durch Unfälle oder Erkrankungen (z.B. Tumoren) entstehen. Wenn durch starke Gewalteinwirkung – wie zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall oder einem Sturz beim Sport – Knochen brechen oder sich Wirbelkörper verschieben, können das im Wirbelkanal verlaufende Rückenmark und die dort befindlichen Nervenbahnen Schaden nehmen. Diese sich daraus ergebenden Störungen können von neurologischen Symptomen, wie zum Beispiel Sensibilitätstörungen in Armen und Beinen, bis hin zu einer Querschnittslähmung reichen.
Welche Folgen bei einer Querschnittslähmung auftreten, hängt davon ab, wie stark und in welcher Höhe das Rückenmark beschädigt wurde. Je höher im Rückenmark eine Schädigung auftritt, desto mehr Körperfunktionen sind von der Nervenversorgung abgeschnitten und desto mehr Körperbereiche sind gelähmt.