Die richtigen Worte finden bei schweren Erkrankungen
Eine schwere Diagnose verändert das Leben und macht es Betroffenen ebenso wie ihrem Umfeld häufig schwer, die richtigen Worte im Umgang miteinander zu finden. Die Psychoanalytikerin Dr. Pirmorady Sehouli spricht im Interview darüber, wie Angehörige Betroffenen unterstützend zur Seite stehen können und gibt wertvolle Ratschläge für einen einfühlsamen Umgang – sowohl im persönlichen Umfeld als auch am Arbeitsplatz oder in der ärztlichen Praxis.
Es ist sehr wichtig, dass man als angehörige Person nicht für sich reagiert, sondern sich eher zur Verfügung stellt. Das bedeutet, dass man sein Gegenüber sehr achtsam beobachtet und sich selbst zurücknimmt.
Onmeda: Frau Dr. Pirmorady Sehouli, wie reagieren Menschen Ihrer Erfahrung nach, wenn bei ihnen eine schwere Erkrankung diagnostiziert wird?
Dr. Pirmorady Sehouli: Menschen reagieren vor allem persönlichkeitsbasiert. In einer so schweren Situation wenden sie Verhalten und Mechanismen an, die für sie schon über Jahrzehnte funktioniert haben, um Stabilität zu erlangen. Der zwanghafte Mensch wird beispielsweise versuchen, strukturiert nachzudenken und die nächsten Schritte durchzugehen. Der emotional-intuitive Mensch wird weinen und erschrocken sein. Es ist sehr individuell.
Onmeda: Wie kann ich als angehörige Person richtig mit der Diagnose umgehen und dem betroffenen Menschen zur Seite stehen?
Dr. Pirmorady Sehouli: Natürlich haben Angehörige immer das eigene Bedürfnis, diesen Menschen zu schützen. In diesem Moment braucht der erkrankte Mensch aber etwas anderes. Nämlich Raum für seine Bedürfnisse und Gedanken. Es ist sehr wichtig, dass man als angehörige Person nicht für sich reagiert, sondern sich eher zur Verfügung stellt. Das bedeutet, dass man sein Gegenüber sehr achtsam beobachtet und sich selbst zurücknimmt.
Onmeda: Wie kann das aussehen?
Dr. Pirmorady Sehouli: Als anschauliches Beispiel, weil es bei einer schweren Erkrankung ganz ähnlich ist: Wenn das Kind eine Erkältung hat, möchte man es als Mutter versorgen. Man kocht zum Beispiel Tee, gibt ihm Halstabletten. Wenn das Kind aber in einer präpubertierenden Situation ist, möchte es diese Intervention vielleicht gar nicht, sondern es ist ihm gerade wichtiger, mit den Freunden Fußball zu spielen. Jetzt geht es darum: Wie schaffe ich es, dieses Kind trotzdem ein Stück weit zu versorgen? Zum Beispiel kann ich sagen: Ok, dann zieh dir aber eine Jacke an, wenn du rausgehst. Ich möchte dieses Kind schützen und pflegen, aber das ist mein Bedürfnis und nicht seins, und ich muss mich jetzt zurücknehmen.
Onmeda: Kann man die Person dann nicht am besten direkt fragen, was sie braucht?
Dr. Pirmorady Sehouli: Diese Frage muss aber gefüllt sein mit der Fähigkeit, sich selbst zurücknehmen zu können, sonst ergibt sie keinen Sinn. Wenn ich schon mit dem Himbeerkuchen vor der Tür stehe und dann die Frage stelle "Was brauchst du", dann hat sie trotzdem ein Geschmäckle. Denn offenbar scheine ich ja schon zu wissen, was die Person braucht, und das soll es eigentlich nicht sein.
Onmeda: Wie wichtig ist es denn für schwer Erkrankte, über ihre Erkrankung zu sprechen? Einige Menschen möchten vielleicht gar nicht darüber reden.
Dr. Pirmorady Sehouli: Selbstverständlich möchten das einige nicht und es ist ihr Recht, nicht darüber zu sprechen. Das ist eine normale Abwehrreaktion. Wichtig finde ich aber, dass die Betroffenen jederzeit die Möglichkeit haben, zu sprechen. Dass da jemand ist, bei dem sie einfach reden dürfen, ohne große Ankündigung. Dass Sprechen hilft, das ist unumstritten. Aber es geht nicht unter Druck. Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, wann er sprechen kann und will. Wenn jemand nicht sprechen möchte, müssen die Außenstehenden diese Grenze respektieren. Und es gibt so viel mehr als das Sprechen, gerade in engeren Beziehungen.
Onmeda: Gerade für Menschen im näheren Umfeld oder am Arbeitsplatz stellt sich oft die Frage: Spreche ich die Erkrankung überhaupt an? Wenn ja, was sage ich? Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist da oft groß. Wie lässt sich mit dieser Unsicherheit umgehen?
Dr. Pirmorady Sehouli: Diese Ambivalenz findet sich häufig bei Bekanntschaften außerhalb des engeren Umfelds. Die fragen sich: Überschreite ich eine Grenze, wenn ich was sage? Geht mich das überhaupt was an? Da ist eine gewisse Distanz zwischen mir und dieser Person, trotzdem möchte ich aber was geben. Ich glaube, wichtig ist es, für sich selbst erst einmal eine Haltung zu haben. Dann fällt es auch leichter, diesen Schritt zu gehen.
Onmeda: Können Sie da ein Beispiel nennen?
Dr. Pirmorady Sehouli: Zum Beispiel Gestik, die Haltung des Gegenübers, die Art, wie man sich ins Gesicht sieht. Aber auch Schreiben, Malen. Und, was in Deutschland sehr selten gemacht wird, ist Singen. Ich sage jetzt nicht, man soll sich im Gesang austauschen, das funktioniert nicht. Aber Musik ist ein Ausdruck dessen, was wir spüren und fühlen. Für jeden Menschen gibt es ein Medium. Es gibt auch den Sport als Reservoir für Wutaffekte.
Onmeda: Wie kann das funktionieren?
Dr. Pirmorady Sehouli: Ein guter Weg wäre, erst zu klären: Was kann ich tun, was will ich tun, warum spreche ich die Person an? Je klarer das ist, desto besser kann ich auf diese Person zugehen und sagen: Ich weiß, du bist in dieser Situation. Sag mir Bescheid, ich entlaste dich gern und biete dir an, einmal in der Woche deine Kinder zu nehmen. Oder, wenn ich gut im Reden bin, sage ich vielleicht eher: Wenn du sprechen willst, lass uns doch treffen. Ich bin absolut gegen ein voyeuristisches Vorgehen wie: Oh mein Gott, dir muss es ja ganz furchtbar gehen, es tut mir so leid. Das macht nichts besser, das muss man sich vorher bewusst machen.
Onmeda: Was sollte man außerdem lieber vermeiden?
Dr. Pirmorady Sehouli: Es geht nicht so sehr darum, was man sagt, es ist eher die Intention, mit der man etwas sagt. Häufig projizieren Menschen die eigenen Ängste auf den erkrankten Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der hat etwas, was man selber nicht will. Und dann fängt man an, all seine Ängste über diesen Menschen zu stülpen. Das macht für die betroffene Person gar nichts besser. Dieses Mitgefühl ist eigentlich nur eine Entlastung für die Person, die etwas sagt wie: Das tut mir aber leid, das ist aber schlimm. Mit solchen Aussagen wäre ich vorsichtig.
Onmeda: Wie ist es am Arbeitsplatz? Raten Sie Betroffenen, ihre Erkrankung dort offen zu kommunizieren?
Dr. Pirmorady Sehouli: Ich glaube, dass es wichtig ist, transparent zu sein und das mitzuteilen. Aber man sollte sich vorher darüber bewusst sein, was man braucht, und das auch mitteilen, um sich zu schützen und abzugrenzen. Das geht am besten, indem man sich ein paar Sätze zurechtlegt, die man geradezu übt. Denn in der Situation ist man schnell überrumpelt und der richtige Satz fällt einem nicht ein.
Onmeda: Aber drücken solche Aussagen nicht Mitgefühl aus?
Dr. Pirmorady Sehouli: Sie sollen Anteilnahme ausdrücken, aber für den Menschen, der erkrankt ist, ist das überhaupt nicht hilfreich. Es kann ja sein, dass der sich gerade ganz anders fühlt, weil er das für sich schon alles geregelt hat. Oder aber, dass der gerade absolut in einer Krise ist, dann hilft ihm so eine Aussage auch nicht.
Onmeda: Was wäre ein guter Weg, um Vorgesetzten und Kolleg*innen über die Erkrankung in Kenntnis zu setzen?
Dr. Pirmorady Sehouli: Man kann zum Beispiel sagen: Für mich ist die Arbeit wichtig, die strukturiert mich, darum bin ich weiterhin hier. Aber ich möchte in dieser Zeit nicht über meine Erkrankung sprechen. Denn wenn man die eigene Erkrankung auf dem Arbeitsplatz offenbart, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass man sich mit den Übertragungen und Sorgen anderer auseinandersetzen muss. Man bekommt aber auch Mitgefühl, was natürlich schön sein kann.
Onmeda: Warum finden Sie diese Transparenz am Arbeitsplatz wichtig?
Dr. Pirmorady Sehouli: Für einen selbst. Was gibt es Wertvolleres als das Leben und die Gesundheit? Warum soll ich die Arbeit von dieser Information freihalten und weiter funktionieren müssen, ohne dass jemand bei der Arbeit weiß, dass ich eine Einschränkung habe? Dann müsste ich ja Teile von mir wegdrücken.
Onmeda: Was raten Sie Menschen mit stigmatisierten Erkrankungen wie Vitiligo oder Psoriasis? Die sind zwar nicht lebensbedrohlich. Aber Betroffene sind doch ständig Reaktionen aus ihrem Umfeld ausgesetzt. Wie geht man mit so etwas um?
Dr. Pirmorady Sehouli: Auch da würde ich dazu raten, sich Sätze zurechtzulegen, um das Gespräch in seinem Sinne zu führen. Ich vermute, dass eine Person, die von Vitiligo betroffen ist, die Hautflecken vielleicht selbst gar nicht mehr so wahrnimmt. Die Außenwelt hat oft ein sehr viel größeres Problem damit. Bei Psoriasis kommt allerdings hinzu, dass es schmerzt und juckt.
Onmeda: Aber es trifft das eigene Selbstbewusst doch, wenn man von außen Ablehnung erfährt, weil Menschen das Hautbild abstoßend finden oder Angst haben, sich anzustecken, auch wenn die Erkrankung gar nicht ansteckend ist?
Dr. Pirmorady Sehouli: Sicherlich ist das schwierig. Aber man kann gut lernen, das zu trennen. Wer ein Problem damit hat, dem empfehle ich daher eine Psychotherapie. Diese Reaktion der Menschen ist nur die Offenbarung des Problems, welches das Gegenüber mit sich selbst hat. Die Angst, die Erkrankung könnte ansteckend sein, sagt ja etwas aus über eine Angst vor Infiltration. Da tut mir das Gegenüber leid. Und Ekel ist Ausdruck davon, dass man etwas Unperfektes bei sich selbst kaum ertragen könnte. Das zeigt im Wesentlichen nur das Defizit bei der Person, der das auffällt.
Onmeda: Was raten Sie Menschen mit schweren oder chronischen Erkrankungen im Umgang mit Ärzt*innen?
Dr. Pirmorady Sehouli: Wichtig ist, sich immer bewusst darüber zu sein, dass ich als Patient*in Zeit habe. Ich muss nichts in diesem Moment entscheiden. Und wenn ein Arzt oder eine Ärztin eine direkte und unmittelbare Entscheidung fordert, dann ist das nicht gut. Wenn man sich in der Beziehung unwohl fühlt, sollte man die behandelnde Person wechseln. Ansonsten kann man einen Therapievorschlag durchaus diskutieren. Ich muss mir die Erlaubnis nehmen, selbst zu entscheiden und mich nicht unter Druck setzen zu lassen. Wenn ich die Meinung habe, dass eine Behandlung für mich nicht gut ist, dann mache ich die nicht.
Onmeda: Zu entscheiden, welche Behandlung die richtige ist, ist sicherlich nicht immer einfach.
Dr. Pirmorady Sehouli: Ja. Wenn es beispielsweise um eine Chemotherapie geht und ich weiß, ich werde mich dadurch übergeben, ich werde vielleicht Haarausfall haben, dann muss ich für mich abwägen, ob ich das möchte. Ich kann zum Beispiel andere Betroffene um Rat fragen oder in eine Selbsthilfegruppe gehen. Ich kann auch einen anderen Arzt oder eine andere Ärztin nach einer Zweitmeinung fragen.
Onmeda: Angenommen, eine Mutter ist an Krebs erkrankt. Wie viel darf man den Kindern sagen und zumuten?
Dr. Pirmorady Sehouli: Ich warne davor, Kinder zu unterschätzen. Ich höre oft, dass Patient*innen sagen, wir haben es den Kindern noch nicht gesagt, um sie zu schonen. Kinder sind unglaublich sensibel und spüren, dass da etwas vorgeht. Ihnen etwas nicht zu sagen, bietet eher den Raum für innere Fantasien und Bilder. Und häufig ist es bei Kindern dann so, dass sie Dinge auf sich selbst beziehen. Eine kindgerechte Transparenz finde ich gut.
Onmeda: Was bedeutet das?
Dr. Pirmorady Sehouli: Das bedeutet: Wenn ich eine schwere Erkrankung wie ein Glioblastom habe, und es ist klar, dass ich sterben werde, dann sage ich dem Kind natürlich nicht: Mama wird sehr wahrscheinlich in vier Monaten sterben. Sondern ich sage: Meine Situation verändert sich. Es ist vielleicht so, dass wir in einer bestimmten Form voneinander Abschied nehmen müssen. Natürlich ist das unumgänglich eine katastrophale Situation für ein Kind. Doch je schwerwiegender die Situation ist, desto wichtiger ist es, dass das Kind das in einer kindgerechten Sprache erfährt.
Onmeda: Wenn es dem Ende zugeht, darf oder soll man das als angehörige Person offen ansprechen? Und zum Beispiel fragen: Was möchtest du gerne noch tun, bevor es so weit ist?
Dr. Pirmorady Sehouli: Das hat immer auch damit zu tun, wo die erkrankte Person steht, ob sie zum Beispiel noch im Verdrängungsmechanismus ist. Oft braucht man es als angehörige Person gar nicht auszusprechen, dann ist es ein Commitment, man weiß es einfach. Die Vorbereitung für sich selbst im Sinne der erkrankten Person ist jetzt wichtig. Sich zu überlegen: Was kann uns in unserer Beziehung vielleicht auch über eine Sterbesituation hinaus jetzt noch stabilisieren?
Onmeda: Was könnte das denn zum Beispiel sein?
Dr. Pirmorady Sehouli: Zum Beispiel gemeinsam in der Beziehung oder als Familie zu überlegen: Wollen wir nicht nochmal an die Nordsee in dieses Hotel fahren, wo wir mal waren? Da wollten wir doch immer nochmal hin und haben es nie getan. Um damit etwas zu generieren, was beruhigend ist. Es ist hilfreich zu wissen, dass dieser Ort noch da ist, auch wenn der Mensch vielleicht gehen muss und in dieser Form nicht mehr da sein wird. Aber im Inneren der Verbleibenden verweilt dadurch etwas.